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Performancepreis Schweiz

Einmalige Darbietungen von analog bis multimedial – und zwei Preisträgerinnen

Am Samstag füllten sich die nun leeren David-Hockney-Hallen im Kunstmuseum Luzern mit vielfarbigsten Darbietungen. Die Qualität war hoch. Den nationalen Preis müssen sich Latefa Wiersch und Claudia Grimm teilen.

Swiss Performance Art Award 2022: Preisträgerin Latefa Wiersch mit Rhoda Davids Abel und Dandara Modesto.
Bild: Bilder: Philip Frowein/PD
(12. November 2022)

Die Irritation ist von Beginn weg da. Ist der blasse Typ mit den wässrigen Augen ein Besucher oder Performer? Und die junge Frau im Paillettenkleid: Will sie einfach ihre Partylaune highlighten? Jedenfalls versammelt sich am Samstag schon um 11 Uhr vormittags eine exzentrische Gesellschaft im Kunstmuseum Luzern. Der Performancepreis Schweiz 2022 wird vergeben. Aus 107 Bewerbungen sind sieben Formationen nominiert. Diese zeigen nun ihre aktuellsten Performances.

Hier wird sogar die Zukunft der Erde verhandelt

Die Langzeitperformance «La Société du Pestacle» des Kollektivs Natalie Portman läuft bereits. 17 Charaktere, die derzeit in Schweizer Theaterhäusern spielen, haben sich unters Publikum gemischt. Der blasse Typ ist also «Der eingebildete Kranke» vom Theater Orchester Biel Solothurn. Aber die Aufmerksamkeit ziehen nun ganz Milda Lembertaitė und Amelia Prazak auf sich. Ihr Stück handelt von erratischen Gesteinen und Übergängen in neue Formen. Eine Performerin dreht sich in der Mitte im Kreis. Mit repetitiven Bewegungen und Rasseln gibt sie eine halbe Stunde lang den Rhythmus vor. Auf Bildschirmen an ihrem Rücken und auf dem Boden erscheinen Gesteinsbrocken. Die zweite Performerin arrangiert Hirschgeweihe zu Tunnels. In Englisch verhandeln die beiden nichts weniger als die Zukunft der Erde: Weiter im Kreis oder sich transformieren?! Sie begeben sich schliesslich durch die Tunnels.

Milda Lembertaitė und Amelia Prazak.

«Hast du nicht alle Tassen im Schrank?»

In der nächsten Halle baut Francesca Sproccati mit vier Monitoren Spannung auf. Auf einem Teppich tippt sie Worte auf die Tastatur, um sie gleich wieder zu löschen: «Here», «Together», «Where Am I», «Melancholia-Party». Es ist dunkel, die weissen Bildschirme beginnen zu flimmern, sphärischer Sound katapultiert in einen Weltraum. «If You Close Your Eyes What Do You See», ertönt’s. Nach 45 Minuten erfolgt die Landung im gleissenden Licht.

Geradezu lustig und bodenständig gestalten sich die 15 Performanceminuten des Collectif Les Heureuses. Cornelia Nater im Rollstuhl und Jeanne Jacob im Stuhl spielen Mühle an einem Gartentisch und wiederholen ihren Zauberspruch «Tee in Kannen zu bannen». Der weitere Dialog spintisiert sich aus Alltagserlebnissen: «Hast du nicht alle Tassen im Schrank?» – «Wir bleiben höflich!» – «Sie schreitet voran, ich harre fort.» – «Danke, danke, danke.»

Mischwesen zwischen Baum und Mensch

Performances sind einmalige Ereignisse an einem Ort zu einer bestimmten Zeit. Sie wirken in der Erinnerung der Beteiligten, in Kunstarchiven, vermehrt auf Social Media weiter. Der Performancepreis Schweiz, inzwischen von sieben Kantonen getragen, will die Sichtbarkeit der Disziplin verstärken. Im Kunstmuseum Luzern hat man am Vortag einen Zentralschweizer Tag angefügt. Dargestellt wurden auch die Werke, welche die Stadt Luzern von Judith Huber, Martina Lussi und Simon Kindle erworben hat. Letzterer stellte Hula-Hoop-Reifen aus gipsartigen Materialien her. Diese brachte er danach tänzerisch ins Spiel: Der erste zerbrach, der zweite zerbarst, der dritte verformte sich. Alle legte er darauf in Holzschachteln fürs Archiv ab.

Noch einmal Latefa Wiersch.

Von «Kolonialgeschichten indigener afrikanischer und afrodiasporischer Bevölkerungsgruppen» ist die Performance von Latefa Wiersch mit Rhoda Davids Abel und Dandara Modesto inspiriert. Wobei der Titel «Neon Bush Girl Society» den Transfer ins Jetzt ankündigt: Die Halle erscheint im blauen Licht, auch die Mischwesen zwischen Baum und Mensch, die sich aus der Starre zu bewegen beginnen. An den Wänden sind Haken mit Masken und möglichen Relikten des südafrikanischen Nama-Volkes. Die Darstellerinnen posen dahinter in neonpinken Leggings. Sie haben die Situation durchschaut und überzeichnen sie: Verpuppungen mit grossen Lippen blicken einen an. Dazu ertönen archaische Stimmen zu elektronischem Sound. Zur ultimativen Inszenierung wird noch ein Gedicht in Englisch eingeblendet: «… I Can Touch The Milky Way Glittering Between My Fingers …»

Schaumstoffmontur als Schutz

Englisch ist in der Kulturszene zweite Landessprache. Sogar die völlig analoge Claudia Grimm kommt nicht ohne sie aus. Kurz vor der Aufführung fragt sie ihren Kollegen Christoph Studer, ob er sie simultan übersetzen könne. Grimm entwickelt scharfsinnige Märchen mit ihrem fiktiven Kollektiv Darts (Disappearing Artists). Mit etwas Schaumstoff und einem Schutzwall-Kit kann sie alle in den Bann ziehen: «Getroffen-werden. Anleitung zu praktischen Übungen» heisst ihr Tutorial. In Schaumstoffmontur trotzt die Künstlerin allen Pfeilen, Steinen und Sinneseindrücken.

Swiss Performance Art Award 2022: Preisträgerin Claudia Grimm schützt sich gegen allerlei.

Mit Hebebühne bis an die Decke

Die Performanceszene ist gerade weiblich dominiert. Der letzte Akt: die junge Johanna Kotlaris als «Personifikation des Todes». In einem Skelettanzug versucht sie, durch Tanz und Gesang lebendig zu werden. Sie zieht von Raum zu Raum, lässt sich zum Schluss mit einer Hebebühne bis unter die Decke des Kunstmuseums fahren. Während 50 Minuten füllt sie mit ihrer Präsenz die Lufträume.

Pause oder Performance? Mit Johanna Kotlaris (Mitte). 

Die hohe Dichte an Ereignissen während sechs Stunden kann ermüden. Jedenfalls ist der Anblick des lebendigen Kopfkissens auf dem Boden verlockend (Schauspieler Jérôme Stünzi als «Mauro» vom Théâtre Saint-Gervais et Arsenic). Auf dieses hat sich zuvor «La Serveuse» von der Theaterproduktion Le Grütli gelegt. Beide gehören zum Natalie-Portman-Kollektiv.

Und wer bekommt nun den Performancepreis Schweiz 2022? Die fünfköpfige Jury ringt sich zu einem Kompromiss durch: Je 15'000 Franken gehen an die analoge Bernerin Claudia Grimm und an die neonarchaisch-multivisuelle Zürcherin Latefa Wiersch.

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