Wem soll man diesen Opernabend empfehlen, der sich da in den nächsten Tagen sechs Mal ungebremst wild, mal grobschlächtig brutal, mal poetisch fein fast vier Stunden lang ins Zürcher Kultur-Nachtleben bohren wird? Sitzleder ist erst mal gefragt, denn bis zum Pausenchampagner dauert es rund 150 Minuten. Geschehen ist bis dahin wenig, gesehen und gehört hat der Opernfreund hingegen viel.
Selbst Regisseur David Pountney sagt über Alexander Borodins (1833–1887) unvollendeten und 1890 nur dank Ergänzungen von Nikolai Rimski-Korsakow und Alexander Glasunow uraufgeführten «Fürst Igor»: «Die individuelle Geschichte der Titelfigur ist nicht sehr fesselnd: Fürst Igor zieht in den Krieg, wird vernichtend geschlagen, endet als Gefangener seines Gegners und muss mitansehen, wie sich sein Sohn in dessen Tochter verliebt, schliesslich flieht er und kehrt in die Hauptstadt seines Fürstentums zurück.» Zu Hause, wo, einer Penelope gleich, Igors Frau wartet, gehts derweil drunter und drüber. Zum Schluss jubelt das russische Volk dem alten Herrscher zu.
Kann so etwas eine Nationaloper werden? Durchaus, denn wie die Steppen Russlands ist eben auch diese Geschichte grenzenlos und voller Mythen – und darüber hinaus voller Selbstbetrug.
Erstaunlich ist, dass Pountney die Hauptfiguren genauso unaufgeregt lenkt, wie er die Handlung erklärt. Rundherum ist genug los. Rund um die Persönlichkeiten herum und losgelöst vom folkloristischen Requisiten-Kabinett erzählt Pountney eine brandaktuelle Geschichte über das russische Volk, über Macht und Machtdemonstration.
Russlands Feinde sind hier nicht mehr die Polowzer, sondern es droht eine terroristische Bedrohung aus der islamischen Welt. Dagegenhalten will dieses Land mit Tradition und Moderne: Doch christlicher Glaube und der brutale sowjetische Militarismus sind zwei unvereinbare Mächte. Besser, man verklärt im Leid die goldene Vergangenheit. Ein Reiterstandbild lässt sich leichter bejubeln als ein mit dem Schicksal hadernder Herrscher aus Fleisch und Blut. Mit kitschigen Miniaturen können wenigstens die Strassenhändler ein paar Rubel verdienen. In Tolstois «Anna Karenina» lesen wir, dass nicht der Wille eines Helden die Handlung der Massen lenkt, sondern er selbst wird von ihnen geleitet.
Intelligentes Spektakel
Wie immer bei Pountney, unter dessen Intendanz in Bregenz der Begriff des «intelligenten Spektakels» gedieh, ist diese Interpretation verpackt in Bilder (Bühne: Robert Innes Hopkins), die prächtig sind, die aber auch verstören und provozieren. Wenn die gefangenen Russen für
die Terroristen tanzen, wird aus der Balletteinlage eine brutale Machtdemonstration der Terroristen. Dass einem dabei der Jubel im Halse stecken bleibt, ja vielmehr ein halb ersticktes Buh aus den Rängen ertönt, spricht nicht gegen Pountney und seinen Choreografen Renato Zanella. Bedauerlich ist das besonders für das Zürcher Ballett mitsamt famosen Solistinnen wie Yen Han. Auch zum Schluss wird Pountney mit Buhs abgestraft – oder waren jene, denen der Abend gefallen hat, zu erschlagen für oppositionellen Jubel?
Nicht nur. Auch wenn «Fürst Igor» neben «Chowantschina» und «Boris Godunow» gestellt wird, bleibt das Werk selbst für Opern-Ohren eine intellektuelle Herausforderung. Gewiss erhalten die Hauptrollen grosse Szenen, Arien gar, doch keine Figur kann so überzeugen, dass sie Handlungs- oder Sympathieträger wird.
Suche nach dem russischen Ton
Interessant ist es, zu hören, wie entscheidend der russische Sprachklang ist. Der Lette Egils Silins kennt ihn zur Genüge, singt aber doch edler, raffinierter, geschmeidiger und deutscher als seine ukrainischen und russischen Gegenüber. Bei Dmitry Belosselskiy, Olesya Petrova und Pavel Daniluk gefallen dafür die natürlichen Stimmfarben umso mehr. Man merkt es am besten, wenn der Österreicher Peter Sonn gegen diese dunklen Töne naiv heiter ansingen will. Olga Guryakovas Schärfe kann allerdings mit der Bezeichnung «russisch» nicht entschuldigt werden.
Wie so oft bei russischer Musik steht Vladimir Fedoseyev im Zürcher Orchestergraben: Immer wieder ist er bemüht, das Orchester in der Zürcher «Igor»-Fassung zischend zum leisen Spiel anzuhalten. Borodins epische Langatmigkeit der Szenen erhält in Zürich dank eines charaktervollen Orchesterklangs eine zweite Ebene. Der geforderte Opernhauschor singt zwar schön, aber von ihm geht keine unmittelbare Kraft aus. Es fehlt an Volumen, bisweilen an Rohheit.
Wer trotz aller Abstriche hingeht – es gilt die Ausgangsfrage zu beantworten! –, erlebt eine vielschichtige Oper mit Tiefgang, die man in Zürich nicht mehr so bald hören wird.
Fürst Igor: sechs Mal bis 29. April.
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