Christian Berzins
Wie schnell doch das Ohr eine süsse Erinnerung zu einer bitteren Enttäuschung machen kann - genauer: in 26 Minuten. Als vor drei Jahren das unbekannte, aber umso ungestümere Venezuelanische Jugendorchester Simon Bolivar zusammen mit dem dirigierenden Wunderkind Gustavo Dudamel am Lucerne Festival debütierte, flossen links und rechts Tränen der Begeisterung. Und der Trauer beim Abschied.
Nach Peter Tschaikowskys Orchesterfantasie «Francesca da Rimini» aber hatte unsereins am Samstagabend Lust, ein vorzeitiges «Adios» zu murren. Nicht weil uns die rührseligen Geschichten über Musiker, die aus der Gosse kamen, beim Brahmshören nicht interessieren; nicht, weil diese «Kinder» auch schon «Viva Chavez!» rufend das Podium verliessen; nicht, weil den jugendlich übermütigen Blicken hochprofessionelle Gesichter gewichen sind. Alles halb so wichtig. Aber an den ersten beiden KKL-Abenden wurde offen gelegt, wie berechenbar und begrenzt die Qualitäten dieser Musiker und Dudamels sind.
Gelingt es diesem Überwältigungsmusiker nicht, sein Orchester in einen Rausch zu treiben, bleibt wenig Einzigartiges. Gelingt es, wie in der bejubelten «Alpensinfonie» von Richard Strauss, könnte es zu famosen Klangentfaltungen führen, wäre man technisch versierter.
Doch zurück zu den 26 Minuten: Dudamel bricht mit extremen Bass-Betonungen in Tschaikowskys Orchesterfantasie ein. Das Blech wird zum scheppernden Schreien gedrängt, die innere Balance geht als Folge des Überdrucks verloren. Momente der Ruhe werden zu Fremdkörpern, da den Phrasen der grosse Atem fehlt. Und zu oft stören handwerkliche Unsicherheiten.
Wie anders doch das Tschaikowsky-Spiel am Vorabend, als der 76-jährige Claudio Abbado dirigierte. Die «Pathétique» war fern einer vordergründigen Show, sondern erhielt eine wahre Deutung. Rührend, wie trotz riesenhafter Besetzung immer wieder klar wurde, dass hier ganz wenige die Fäden ziehen, dass der rauschhafte Ausbruch aus der Intimität wächst. Wenn die Klarinette den ersten Teil des 1.Satzes (Takt 153) beenden soll, wird das zu einem theatralen Bühnentod ohnegleichen. Aber bei Abbado wird nicht «geseufzt» und «geschluchzt» wie bei Dudamel, sondern mit melancholischem Atem eine ganze Welt verabschiedet.
Gewiss schlägt die Orchesterkraft alsbald brutal los, doch die süsse Sehnsucht schwebt weiter im Saal. Kühn war es, den 3.Satz geradezu tänzerisch anzugehen, hier, wo auch Bedrohlichkeit herrschen könnte. Aber als wollte er dem an dieser Stelle jeweils verfrüht einbrechenden Jubel ausweichen, ersetzte Abbado die Innenspannung durch eine altersmilde Gelöstheit - schwer für das Orchester, dies umzusetzen.
Vorausgegangen waren die «Skythische Suite» von Sergej Prokofjew und Sinfonische Stücke aus «Lulu» von Alban Berg. Schön zu hören, wie Abbado bei Prokofjew die verborgene Gesanglichkeit auf Kosten des rhythmischen Spektakels hervorhob, wie fein lyrisch er Berg ausgestaltete.
Ein ereignishafter Festivalbeginn mit viel Blitzlicht, venezolanischen Fahnen und den Kameras von ZDF/Arte im Saal. Im Laufe der Woche wird es stiller, ja österlicher werden, ehe zum Festivalschluss das Bayerische Rundfunkorchester das KKL dominiert. Ists nicht etwas schade, weicht Abbado solchen Klangkörpern zugunsten seiner Jugendprojekte aus?
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