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Verkehrsgeschichte

Autofreie Stadt? 1790 hiess das: «Verbietet die Kutschen!»

Der Porschefahrer, der hilflos von angeklebten Klimaaktivisten ausgebremst wird, ist kein neues Phänomen. Proteste gab es auch schon früher. Ohne Trottoirs waren die Fussgänger im 18. Jahrhundert nämlich Freiwild für Kutschen, wie ein neues Büchlein dokumentiert.

Das Verkehrschaos im Pariser Zentrum auf dem Pont Neuf um 1700. Reiter, Fuhrwerke, Sänften und Karossen – und dazwischen gestürzte Fussgänger (Nicolas Guerard, 1648-1719).
Bild: Alamy/www.alamy.com

Zu brav ist dieser anonyme Wutbürger 1790, um sich auf die Strasse zu kleben. Vielleicht aber traut er den Bremskünsten der Kutscher zu wenig, oder ist gar politisch naiv. Statt Sitzstreik schreibt er nämlich im Vertrauen auf die nach der Revolution frisch installierte Republik eine Petition an die Pariser Nationalversammlung: Genug sei genug!

Man kann es sich vorstellen: Da rattern Vierspänner, Pferdetaxis und Fuhrwerke haarscharf um die Ecke, ohne Tempolimit, ohne Blinker und Hupe, angetrieben von gestressten, peitschenschwingenden Kutschern. Es sei der Horror, ein Sprung von den rutschigen Fahrbahnen auf das Trottoir wäre die Rettung – wenn es denn eines gäbe, klagt der anonyme Schreiber. Zu seiner Zeit gab es in Paris nur auf dem Pont Neuf einen Gehsteig. Treuherzig fordert der Petitionär, man müsse das revolutionäre Versprechen der Gleichheit aller Menschen auch im Strassenverkehr einlösen. Tönt immer noch fast revolutionär, wenn man sich den aktuellen Kampf um verkehrsberuhigte, hiesige Innenstädte vergegenwärtigt.

Öfters schneller als 50 Stundenkilometer

Anonymus: Verbietet die Kutschen! Übersetzt und kommentiert von Hans Haselbach und Veronika Meyer. Dietz-Verlag, 71 Seiten.

Gemütlich war die Kutschenzeit für die Pariser Fussgänger keineswegs, sondern ziemlich unberechenbar und gefährlich. Die leichtgewichtigen Personenkutschen seien öfters mal über 50 Stundenkilometer unterwegs gewesen, schreibt der Historiker Arnaud Exbalin. Dass wir die anonym verfasste Petition des aufmüpfigen Verkehrsberuhigers aus dem späten 18. Jahrhundert in Form eines Büchleins im Original und in erstmaliger deutscher Übersetzung sowie ausführlich kommentiert lesen können, ist dem St.Galler Romanisten Hans Haselbach und der St.Galler Chemikerin und Grünen-Stadtparlamentarierin Veronika Meyer zu verdanken.

Gefordert: Fahrverbot für Personenwagen in der Innenstadt

Dieser Petitionär war zwar engagiert und offensichtlich ehrlich zornig, aber nach heutigem Massstab kein Aktivist. Argumentiert hat er aber scharfsinnig und drastisch. So würden jedes Jahr allein auf Pariser Strassen rund 300 Menschen bei Kutschenunfällen ums Leben kommen, schreibt er. Haselbach und Meyer haben in neuere Statistiken geschaut: Im Jahr 2017 gab es auf den Pariser Strassen 30 Tote, dies bei verzehnfachter Bevölkerung und Millionen von Autos statt geschätzter 20’000 Kutschen im Jahr 1790.

Was der anonyme Schreiber von der Nationalversammlung als Abhilfe fordert, war visionär: durchgehende Trottoirs mit 16 Zentimetern Höhe, Haftpflicht, Bussgelder, Tempolimiten – und Gipfel der Revolution: Fahrverbot für Personenkutschen in der Innenstadt! Anschaulich sei ihm die Feier zum ersten Jahresjubiläum des Sturms auf die Bastille gewesen. An jedem Tag sei die Innenstadt für Fiaker gesperrt gewesen. Oh Wunder, das Fest sei ohne Unfälle über die Bühne gegangen, die Zweiklassengesellschaft, die auch nach der Revolution aus Arm und Reich, aus Fussgängern und Kutschenbesitzern besteht, für einmal aufgehoben.

Eigentlich wäre das die Einlösung des revolutionären Versprechens: Begegnungszone statt Verkehrschaos auf den Strassen! Und das Urban Gardening hat er auch noch vorweggenommen, wenn er über die Standplätze der Kutschen schreibt: «Diese grossen Höfe und Plätze, mit enormen Kosten gepflastert, nur um in der warmen Jahreszeit die Hitze in lästiger Weise abzustrahlen und einen monotonen Anblick von Trockenheit zu vermitteln, sie werden euch gleichmässig grünen Rasen bieten, manchmal mit Gemüse und Obst.».

Anonymus: Verbietet die Kutschen! Übersetzt und kommentiert von Hans Haselbach und Veronika Meyer. Dietz-Verlag, 71 Seiten.

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