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Kolumne «Landauf, landab»

Wer oder was ist die Schweiz? Gedanken über Klischees nach dem ESC-Sieg von Nemo

Nach dem ESC-Sieg musste Nemo auch negative Kommentare einstecken. Respektlos, findet unsere Kolumnistin. Sie fragt sich dabei, was die Schweiz eigentlich ausmacht.

Was für ein Wochenende liegt hinter uns! Hatten Sie einen schönen Muttertag? Eine Lehrerin erzählte mir, dass sie mit ihren Drittklässlern Dankeskarten zum Muttertag basteln und schreiben wollte. «Aber die Kinder hatten keine Idee, wofür sie sich bei ihren Müttern bedanken könnten.» Wie bitte? Weil einfach alles selbstverständlich ist? «Nur ein Bub erklärte, er bedanke sich dafür, dass seine Mutter ihm Fussballbildchen kaufe.» Muss ich mir Sorgen um unsere Kinder machen? Na gut, die Erwachsenen, die machen mir manchmal auch Sorgen.

Als Nemo am Samstag den Eurovision Song Contest gewann, verbrachte ich die Nacht vor dem Fernseher und freute mich. Sein Song ist eine Mischung aus Rap und Oper, der Auftritt gleichzeitig Gesangsakrobatik und Zirkusshow. Respekt! Mir hat der bunte, schräge Vogel gefallen. Und wenn am nächsten Tag einige Schweizerinnen und Schweizer das Wort «nonbinär» gegoogelt haben, war der Song ein wertvoller Beitrag zum Nachdenken über das menschliche Zusammenleben. Ich persönlich bin da sehr offen und tolerant. Jeder soll so leben können, wie er will, solange er damit nicht andere verletzt.

Nemo beim ESC-Auftritt.
Bild: Bild: Martin Meissner/ap

Einige erklärten, sie fühlten sich als Schweizer nicht von Nemo vertreten. Oje! Schon oft hat man über «die Schweiz» gesprochen und ich fühlte mich nicht damit gemeint. Sind die Schweizer Klischees nicht viel zu festbetoniert? Die Frage, was «die Schweiz» ist und ausmacht, sollte man schon immer mal wieder neu diskutieren dürfen. Ich finde zum Beispiel unsere Schweiz grossartig, gerade weil Nemo hier offen reden, leben und singen kann. Und weil so viele Nemo zujubeln und sich mitfreuen.

Ein anderer Teil der Schweiz hat sich derweil im Internet ausgetobt und Nemo mit Spott und Hohn überhäuft. Man hat ihn sozusagen verbal angespuckt. «Wir müssen uns alle schämen», hiess es da. Ich las so viele Beleidigungen, dass mir übel wurde. Über Musikgeschmack darf man streiten, das ist klar, aber über Anstand nicht. Bitte lasst diese respektlosen Leute nicht «die Schweiz» sein!

Mit diesem Text verabschiedet sich unsere Gast­kolumnistin Blanca Imboden, Schriftstellerin aus Malters. Wir danken ihr herzlich für ihr Engagement. Am Freitag äussern sich jeweils Gastkolumnisten und Redaktorinnen unserer Zeitung zu einem frei gewählten Thema.

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