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Uri

Urner Richter im Ruhestand: «Ich habe für die Justiz gelebt»

Nach 37 Jahren am Landgericht Uri geniesst Heinz Gisler nun seinen Ruhestand. Im Gespräch mit dem 67-jährigen Juristen wird deutlich: Die Arbeit als Richter und Vorsteher der Strafrechtlichen Abteilung war für ihn mehr Berufung statt Beruf.
Heinz Gisler in der Stube des Elternhauses, das er übernommen hat. (Bild: Carmen Epp, Altdorf, 4. Juni 2019)

Carmen Epp

Mehr als sein halbes Leben lang hat sich Heinz Gisler mit Geschichten anderer auseinandergesetzt, Anklägern und Verteidigern zugehört, Zeugen befragt, sich in Opfer und Täter hineinversetzt (siehe Kasten). Dabei musste er sich selber als Person stets heraushalten. Kein Wunder also, dass sich der 67-Jährige mit umgekehrten Vorzeichen nicht ganz so wohl fühlt. «Lieber nicht», sagt Gisler, als ihn unsere Zeitung für ein Porträt anfragt. Er wolle keinen Personenkult, ausserdem sei die Ära Gisler nun ja vorbei. «Na gut», sagt er schliesslich, nach einigem Zureden. «Solange der Artikel nicht zu gross ausfällt.»

Am Stubentisch seines Elternhauses an der Attinghauserstrasse wird jedoch schnell klar: Das Versprechen, «nichts Grosses zu machen», wird schwierig einzuhalten. An Geschichten mangelt es Gisler nämlich nicht, im Gegenteil, der 67-Jährige hat einiges zu erzählen. Dies nicht nur, weil ihm in den vergangenen 37 Jahren vor Gericht so allerhand zu Ohren gekommen ist – hier verrät Gisler nur so viel, wie ihm erlaubt ist. Auch seine eigene Geschichte und jene seiner Eltern gäben genug Stoff für ein ganzes Buch her.

Reife Eltern lernen ihn Dankbarkeit und Verständnis

Im Dezember 1951 in Altdorf geboren, wuchs Gisler bei seinen Eltern und mit seinem zehn Jahre älteren Halbbruder Charles-André auf. Bevor sie in Altdorf seinen Vater kennen und lieben lernte, war Gislers Mutter, ledig Aschwanden von Altdorf, mit dem Grenzwächter Charles-André Guignard in Genf verheiratet. Dadurch bekam sie während des Zweiten Weltkriegs viel Leid mit und entging nur knapp dem Tod, wie Gisler erzählt. Ihr Ehegatte, mit dem sie den gemeinsamen Sohn Charles-André hatte, verstarb früh an einem unbemerkten Leberriss.

Zurück in ihrem Heimat-Kanton Uri musste die Witwe sich und ihren Sohn als Alleinerziehende durchbringen, «mit einem Stundenlohn von gerade mal 90 Rappen», betont Gisler. Auf der Arbeit in der damaligen Munitionsfabrik Altdorf lernte seine Mutter den dortigen Kaufmann Werner Gisler kennen und lieben, den sie in der Folge heiratete. 1950 erbaute das Ehepaar Gisler-Guignard das Haus an der Attinghauserstrasse, das ihr gemeinsamer Sohn Heinz später übernahm.

Im Alter von sechs Jahren sei er drei Wochen lang wegen Keuchhusten flach gelegen, ja fast daran gestorben, erzählt Gisler weiter. Nachdem die Ärzte ihnen geraten hatten, dass Höhenluft gut für das aus der Krankheit resultierende Asthma ihres Sohnes wäre, übernahmen seine Eltern kurzerhand das Amt als Hüttenwarte der Skihütte auf dem Brüsti. «Notabene nebenamtlich», fügt Gisler an. «Dabei hatten die beiden ‹Chrampfer› wahrlich schon genug zu tun.» Das Asthma habe er in diesen drei Jahren auf dem Brüsti verloren.

Die Taten seiner inzwischen verstorbenen Eltern, so verraten es die glasigen Augen, rühren Gisler noch heute. Er sagt:

«Von der Reife meiner Eltern habe ich nachhaltig profitiert. Auch für die Justiz.»

So habe er schon früh gelernt, dankbar zu sein und Verständnis zu haben für Menschen, mit denen es das Schicksal nicht so gut meinte. «Das Leben verläuft nicht immer in geraden Bahnen», sagt Gisler. «Und Menschen machen Fehler.» Seine Hauptaufgabe als Richter sei gewesen, den Menschen so zu nehmen, wie er ist – und alle gleich zu behandeln.

Die Frage, wie viele Urteile er in den vergangenen 37 Jahren am Landgericht Uri gefällt oder in beratender Funktion als Gerichtsschreiber begleitet hat, kann Gisler nicht beantworten. Nicht nur, weil er nicht mitgezählt hat. Sondern weil er nichts davon hält, die Tätigkeit eines Richters mit Zahlen und Statistiken zu bewerten. «Das wird den Geschichten hinter den Fällen nicht gerecht.» Kommt hinzu, dass er als Vorsteher der Strafrechtlichen Abteilung auch viele aufwendige Fälle zu behandeln hatte, wie etwa den Mord am «Mühle»-Wirt in Schattdorf oder den Mordauftrag von Ignaz Walker an dessen damaliger Ehefrau. Im Fall Walker hat das Bundesgericht 2018 in letzter Instanz das Urteil bestätigt, zu dem das Landgericht unter Gislers Vorsitz bereits 2012 gekommen war. «Dies notabene ohne zusätzliches Personal und innert acht Tagen für Verhandlung, Beratung und Urteilseröffnung.»

Keine Befriedigung, Personen zu verurteilen

Von einer Genugtuung will Gisler jedoch nicht sprechen. Es sei für ihn nie eine Befriedigung gewesen, Personen zu verurteilen. Wer Gisler schon vor Gericht erlebte, kann dies bestätigen: Sah er für einen Beschuldigten wenig Gewinnchancen, gab ihm Gisler das im Rahmen seiner gesetzlichen Möglichkeiten zu erkennen. Damit der Beschuldigte allenfalls den Strafbefehl akzeptieren und sich durch den Rückzug weitere Gerichtskosten sparen konnte. Er habe seine Aufgabe darin gesehen, für Rechtssicherheit in der Gesellschaft zu sorgen. «Indem ich jemanden, der Unrecht getan hat, nach meiner inneren richterlichen Überzeugung seiner gerechten Strafe zugeführt habe. Egal, um wen es sich dabei handelt.»

Letzteres betont Gisler während des Gesprächs mehrmals – und glaubhaft. Er habe nie ein persönliches Problem mit einem der Beschuldigten gehabt und alle gleich behandelt. Auch wer mehrmals mit dem Gesetz in Konflikt gerät, sei deswegen noch lange kein Rechtloser, sondern habe ein Anrecht auf Gleichbehandlung. «Das gilt auch für einen Ignaz Walker», sagt Gisler. «Der übrigens mir gegenüber immer sehr anständig war.» Dank dieser Einstellung und weil er seine Funktion als Richter stets von jener als Privatperson habe trennen können, habe er in all den Jahren weder schlaflose Nächte durchgemacht noch Drohungen erhalten.

Dass er Integrität nicht nur predigte, sondern auch lebte, haben auch seine Mitmenschen wahrgenommen, wie Gisler erzählt. Als er in einem Fall wegen verwandtschaftlicher Verbindungen zu den Opfern in den Ausstand getreten sei, habe ihn der inzwischen verstorbene Anwalt Walter A. Stöckli dazu ermahnt, sich nicht im Hintergrund einzumischen. «Als ich ihm versicherte, dass mir so etwas fernliegt, sagte er: ‹Ihnen, Herr Gisler, glaube ich das.› Wer Stöckli kannte, weiss, welch grosses Kompliment das war!»

USB-Sticks statt Hunderte Laufmeter Aktenordner

Nicht nur als Richter hat Gisler einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Auch der Arbeitsweise an der Strafrechtlichen Abteilung des Landgerichts hat er seinen Stempel aufgedrückt – indem er die Digitalisierung am Gericht bereits ab 1995 entscheidend vorantrieb. So ist es ihm zu verdanken, dass Hunderte Laufmeter Akten nicht mehr nur in Ordnern vorliegen, sondern als elektronische Daten auf DVDs, CDs oder USB-Sticks. Ja selbst Fachwerke zu verschiedenen Themen hat Gisler nach und nach eingescannt und digital erfasst.

«Als ich zu Seminarien mit dem USB-Stick statt mit schweren Büchern erschien, hat man jeweils nicht schlecht gestaunt.»

Besonders stolz ist Gisler darauf, dass seine Methode zur Digitalisierung nicht nur günstig war, sondern heute, fast ein Vierteljahrhundert später, noch immer Bestand hat. «Auch das habe ich mir stets zu Herzen genommen: sparsam mit den Steuergeldern umzugehen.»

Wenn man Gisler zuhört, fällt es schwer, zu verstehen, wieso er sich bei den letzten Richterwahlen nicht für eine weitere Amtszeit zur Verfügung stellte. Dabei hatte auch hier seine ethische Grundhaltung die Finger im Spiel, wie Gisler erzählt. Er habe aufhören wollen, bevor die ersten Ermüdungserscheinungen auftreten. Denn die dürfe es in einer solchen Funktion nicht geben. Er sagt:

«Als Richter muss man immer 100 Prozent geben. Die Gesellschaft, die Wähler und die Steuerzahler haben ein Anrecht darauf.»

Das habe er in den vergangenen acht Jahren und auch zuvor als Gerichtsschreiber getan. «Ich habe mit und für die Justiz gelebt.» Aber keiner sei unersetzbar, fügt Gisler an. Zudem sei die Pension auch ganz schön. Nun kann sich Gisler vermehrt seiner Frau und dem gemeinsamen Haus widmen. Und die Digitalisierung endlich auch in den eigenen vier Wänden vorantreiben, mit dem ersten Internetanschluss im Hause Gisler überhaupt.

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