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Aussichten

Tierschutz als Teil des Wirtschaftsrechts und das «Schanghai-Syndrom»

Tierschutzgesetzgebung ist zum grossen Teil Wirtschaftsrecht und muss endlich wie solches gemäss allgemeinen und anerkannten professionellen Standards um- und durchgesetzt werden.

Monika Roth.

Ich weiss nicht mehr, wie ich auf den Begriff «Schanghai-Syndrom» gekommen bin – mutmasslich im Zuge einer Radiosendung. Es ging um Covid und wie die Menschen in China auf die rigorosen Massnahmen reagierten, gerade in Schanghai. Offenbar haben Lockdowns wie etwa der in Wuhan die Bevölkerung in Schanghai nicht interessiert; erst als die Massnahmen sie direkt betrafen, setzte sie sich mit den Einschränkungen auseinander. Verallgemeinernd besagt das Schanghai-Syndrom, dass vieles einen erst interessiert, wenn man selbst davon betroffen ist. Eigentlich, könnte man meinen, müssten die 95 Prozent der Schweizer, die Fleisch essen, Gedanken dafür verwenden, wie es den Nutztieren geht, bevor sie stückweise im Teller landen. Das ist aber nicht so, wohl weil man sonst kaum mehr Fleisch essen würde. Denn das billige schöne Stück Fleisch vom gut gehaltenen Vieh ist Illusion. Viele der Labels sind nichts wert. Sie sind in den Kriterien schwammig. Dass es gerade im Bereich der Nutztierhaltung nicht schön zugeht, ist eine Tatsache. Und ebenso, dass Bauern die Legalität bei der Tierhaltung ausnutzen und sich die Frage, was legitim ist, nicht ansatzweise stellen. Diejenigen, die es wirklich tun, haben Seltenheitswert. So bleibt das Leben von Vieh oft kurz und miserabel.

In der Schweiz gilt, was in Deutschland der Fall ist: Es gibt insbesondere in der Nutztierhaltung ein Kontroll- und Vollzugsdefizit. Das Tierschutzgesetz und weitere Erlasse werden kaum umgesetzt. So hält beispielsweise Jens Bülte, Strafrechtsprofessor in Mannheim, fest, es gebe keinen anderen Wirtschaftsbereich, in dem das Recht so wenig durchgesetzt werde. Dies trotz der ohnehin überschaubaren Strafen; die Höchststrafe beträgt wie in der Schweiz drei Jahre. Die Situation hierzulande ist auch sonst nicht anders. Es wird jahrelang zugeschaut, wenn schwere Beanstandungen festgestellt werden. Unangekündigte Kontrollen sind nicht die Norm. Dilettantisch werden Inspektionen nicht einmal dokumentiert; es gibt oft weder Fotos noch Filme – Amtstierärzte nehmen somit oft ihre Verpflichtungen nicht umfassend wahr. Es ist offensichtlich, dass Nichtdokumentiertes kaum beweisbar ist. Das müssten Ämter wissen und durchsetzen. Behörden versagen, indem sie häufig erst bei Vorliegen von erheblichen Einschränkungen des Tierwohls sich zum Handeln verpflichtet fühlen. Es hat in der Schweiz den Fall Hefenhofen gegeben – ein Skandal ohnegleichen mit unermesslichem Tierleid. Was hat man gelernt? Noch immer gibt es Fälle, bei denen Kontrolleure ihr Recht auf Zugang zu einem Hof nicht durchsetzen, wenn ein Bauer ihn verweigert, obwohl das Gesetz klar ist. So untergräbt der Staat selbst eine Gesetzgebung, die wie andere befolgt werden muss. Es fehlen bei Staatsanwaltschaften und bei der Polizei meist spezialisierte Teams, die in Tierschutzfällen ermitteln und diese zur Anklage bringen.

«Beim Mähen einer Wiese trennte ein Luzerner Bauer einer Katze seines Hofes die Hinterbeine ab. Ein Passant machte ihn auf das leidende Tier aufmerksam, doch der Bauer kümmerte sich nicht darum und mähte weiter. Darauf tötete der Passant die Katze. Die kantonale Staatsanwaltschaft verurteilte den Bauern wegen Tierquälerei zu einer unbedingten Geldstrafe von 2100 Franken. Auf dessen Beschwerde senkte das Kantonsgericht die Strafe auf 1800 Franken. Dabei bleibt es laut Bundesgericht: Als Tierhalter hätte er sich sofort um die Katze kümmern müssen.» So fasste die Zeitschrift «K-Tipp» im Oktober einen Bundesgerichtsentscheid zusammen. Ich habe ihn (BGE 6B_175/2021 vom 24. August 2022) genauer gelesen. Ich finde einen Satz besonders interessant. Der Bauer führte ein berufsbedingt enges Verhältnis zu Tieren an – und liess seine eigene Katze mit beiden Hinterbeinen komplett vom Rumpf abgetrennt einfach liegen. Kommentar überflüssig.

Monika Roth ist Professorin und selbstständige Rechtsanwältin.

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