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Zug

«Seitenblick»: Die Erfindung des Gegenlesens

Redaktor Marco Morosoli über die Entwicklung des Wunsches nach dem Gegenlesen seiner Berichte.

Ich bin glücklich, dass mein journalistisches Wirken in eine so interessante und abwechslungsreiche Zeit fällt. Den Bleisatz habe ich nicht mehr erlebt, das Kleben von Zeitungsseiten hingegen schon. Idyllische Zustände herrschten damals in Sachen Gegenlesen. Ich meine hier nicht das Vier-Augen-oder-mehr-Prinzip innerhalb der Redaktion. Das macht Sinn und trägt dazu bei, dass der Journalist ein Leben lang lernt, um immer weiter gehen zu können.

Was ich nie auf die Reihe kriege, ist der Satz: «Bitte schicken Sie mir doch den Text zum Gegenlesen.» Das gab es früher wie auch die Smartphones nicht. E-Mails als Informationsträger überfluteten erst gegen Ende der 90er-Jahre die Redaktionsstuben. Vertrauen war da, aktuell ist es seltener.

Ich habe zwölf Jahre über den EVZ berichtet. In dieser Zeit herrschte mich nur ein einziger Anrufer an. Er machte mich jedoch kurze Zeit später zum EVZ-Freimitglied. Und ein Zuger Topverteidiger im Herti-Stadion erzählte mir Jahre später: «Habe ich nach dem Spiel wirklich so klare und durchdachte Sätze formuliert.»

In meiner Zeit bei einer TV-Programmzeitschrift hatten wir dann einen Textchef. Ich und er mochten uns nicht. Einmal brachte es dieser Mann aus dem Norden fertig, einen kleinen Bericht aus meiner Feder sieben Mal umzuarbeiten. Am Schluss wusste er nicht mehr, welcher Text der finale ist. Deutsche Agenturen fragten in dieser Zeit, ob ich ihnen Texte kurz zum Lesen schicken könnte. Änderungen gab es bei diesem Prozess kaum. Wann das Gegenlesen in der Schweiz angekommen ist, weiss ich nicht.

Frisch ausgebildete, jüngere Journalistinnen oder Journalisten sagten jeweils nach einem Interview: «Soll ich Ihnen die Zitate schicken?» Der Gefragte freute sich über dieses Angebot. Dieser Prozess glättet alle verbalen Spitzen. Die Gegenseite verlangt den obgenannten Vorgang mittlerweile schon im Schlaf. Ich lasse es mittlerweile mit mir geschehen. Manchmal dient es wirklich der Verbesserung. Was ich jedoch nicht ausstehen kann: Wenn Interviewte nicht nur Ihre Zitate anpassen, sondern auch die Fragen verändern. Es gibt sogar Auskunftspersonen, welche das Gegenlesen bei schriftlich übermittelten Aussagen verlangen. Einen Freipass haben nur Menschen, die fürs Radio oder das Fernsehen arbeiten.

Ich bin nicht ohne Fehl und Tadel, aber ich habe gelernt, meine Texte nach bestem Wissen und Gewissen zu verfassen. Früher regte ich mich über jede Korrektur auf. Mittlerweile lasse ich es geschehen. Wenn mein Gegenüber glücklich ist, dann kann ich heute damit leben und erhalte so keine zu später Stunde verfassten E-Mails.

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