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Sassi, Bond und Heinrich Böll

Ronny Arnold berichtet in unregelmässigen Abständen von seinem Leben mit Frau Xenia auf den Strassen der Welt. Heute schreibt er über einen langen Sommerabend – und Weltliteratur.
Ronny Arnold schreibt Kolumnen für die «Urner Zeitung» über seine Reise mit dem Campervan. (Bild: PD)
Xenia Stutz und Ronny Arnold vor ihrem umgebauten Mercedes-Bus. (Bild: PD)

Ronny Arnold

Ronny Arnold

Auf unserer Reise durch Europa haben wir vor einiger Zeit die Region Apulien im südlichen Italien erreicht. In der Nähe der Stadt Matera sind wir spätabends mit unserem zum Wohnmobil umgebauten alten Mercedes-Bus auf einen Stellplatz gefahren. Matera ist berühmt für seine Sassi. Diese in Stein gehauenen Höhlenwohnungen waren bereits in der Jungsteinzeit besiedelt und bis vor rund sechzig Jahren bewohnt. Die Sassi von Matera wurden in den 1960er-Jahren geräumt, weil die hygienischen Zustände zu Malaria und anderen Krankheiten sowie zu einer Kindersterblichkeit von bis zu 44 Prozent geführt hatten. Rund 30’000 Bewohner wurden damals in die etwas oberhalb gebauten Sozialwohnungen umgesiedelt.

Die Sassi wurden restauriert, und es entstanden Museen, Restaurants, Boutique-Hotels und Künstlerwerkstätten. Heute zählen die Sassi di Matera zum Unesco-Welterbe und gelten als echter Tourismusmagnet. Sie haben bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen – genauso wie James Bonds wunderschöner Aston Martin DB5, der im neusten Film – leider nicht ohne Blechschaden – die engen Gassen von Matera hinunterrast.

«Hey, how are you? Is he friendly?»

Zurück zu unserer Kulisse in Matera: Auf einem ausgebreiteten Teppich döst Thanos vor sich hin, der griechische Strassenhund, der seit Januar unser treuer Begleiter ist. Er erträgt die Hitze nicht so gut, wie man dies aufgrund seiner Herkunft vermuten würde.

Plötzlich fragt mich jemand: «Hey, how are you? Is he friendly?» Es ist Mark, der sein fahrendes Zuhause – einen steinalten Volvo N10 Militärlastwagen Marke Selbstausbau – nur ein paar Meter neben uns abgestellt hat. Meine Frau Xenia erzählt ihm von unseren Reiseplänen für Grossbritannien. Und schon bald sitzen wir mit Mark und dessen Frau Jackie gemütlich bei einer Tasse Tee zusammen.

Die beiden reisen seit bald drei Jahren mit ihren vier Hunden durch Europa und geniessen das Leben als Frührentner. Mark und Jackie haben viele Jahre hart gearbeitet und gespart, um sich diesen Traum zu erfüllen. Sie haben sich keinen Luxus gegönnt, bis zuletzt in einer Einzimmerwohnung gelebt, sind selten in Restaurants eingekehrt und waren nur mit alten Autos unterwegs. Kurz nach dem Brexit verloren beide ihren Job und brachen – sozusagen gezwungenermassen – früher als vorgesehen zu ihrer Reise durch Europa und die übrigen Kontinente auf.

Mark und Jackie haben uns mehrere Landkarten, aber auch Reiseführer von Gegenden fernab des Mainstreams geschenkt. Und im Verlaufe unserer Begegnung schreiben sie uns ihre persönlichen Tipps für Grossbritannien von Hand fein säuberlich auf ein liniertes Notizblatt. Als Highlight darf ich schliesslich ihren fahrenden Wohntraum von innen bestaunen.

Eine Welt ohne Karrieredenken und Besitzstreben

Etwas später gesellt sich auch noch Daniele zu uns. Er ist Italiener und hat Mark und Jackie am Vorabend kennen gelernt. Daniele schwärmt vom einzigartigen Brot, das er jeden Tag in der immer gleichen Bäckerei kauft. «Dieser Laden könnte seit Jahren wachsen, mehr Umsatz erzielen und zusätzliche Mitarbeiter anstellen», erzählt er. «Aber die Inhaber backen jeden Tag gleich viele Brote.»

Danieles Beschreibung erinnert mich an Heinrich Bölls «Fischer und Urlauber». In dieser Parabel des deutschen Schriftstellers trifft ein Urlauber am Strand auf einen Fischer, der trotz hervorragender Bedingungen die Häufigkeit seiner Fahrten nicht erhöhen möchte, nur um mehr verdienen, langfristig ein erfolgreiches Fischfangunternehmen aufbauen und sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere zur Ruhe setzen und im Hafen dösen zu können. Der Fischer gibt dem Urlauber zu verstehen, dass er dies auch jetzt schon könne und dass deshalb zusätzliche Anstrengungen nicht notwendig seien, der Urlauber spürt danach sichtlich Neid ob der Zufriedenheit des Fischers.

Unsere Gruppe philosophiert in der Folge schon bald über die Hauptaussage der Böll-Parabel. Das Ergebnis der Diskussion würde den Rahmen dieser Kolumne sprengen. Deshalb nur ein kurzes Fazit: Je länger wir zusammen am Tee sitzen, umso bewusster wird uns allen, dass Karrieredenken und Besitzstreben in unserer Gesellschaft alltäglich sind. Als Reisende dürfen wir uns aber glücklich schätzen, dass diese «Werte» für uns nur in der Theorie existieren. Nicht nur an diesem genüsslichen Nachmittag in Matera.

Ronny Arnold fährt zurzeit zusammen mit seiner Frau Xenia Stutz durch Europa und berichtet in loser Folge über interessante Orte, Begegnungen und Gespräche.

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