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Zwangsmassnahmen

340 Urner in Arbeitsanstalten gesteckt – auch in Schwyz

Etwa 700 Zwangsmassnahmen sind im Kanton Uri von 1905 bis 1970 vollstreckt worden. Das zeigen die Ergebnisse einer dreijährigen Untersuchung. Eine der Anstalten befand sich im Kaltbach in Schwyz.

Es ist ein dunkles Kapitel der Urner Geschichte. Zumindest, was die Transparenz betrifft, bringen nun die Ergebnisse einer dreijährigen Forschungsarbeit etwas Licht in die Sache. Wie auch im Rest der Schweiz wurden im Kanton Uri bis in die 1970er-Jahre sogenannte «fürsorgerische Zwangsmassnahmen» verhängt. Damit konnten Personen weggesperrt werden, die sich nicht an die sozialen Normen jener Zeit hielten. Auch in Uri waren es Hunderte.

Konkret wurden von 1905 bis 1970 insgesamt rund 700 solche Massnahmen durch Urner Behörden erlassen, wie die Forschungsergebnisse der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften nun zeigen. Von den Massnahmen betroffen waren in den untersuchten 65 Jahren um die 340 Urnerinnen und Urner, darunter auch Kinder, wie der Urner Historiker Romed Aschwanden auf Anfrage sagt. Der Historische Verein Uri, dessen Vizepräsident er ist, hat die Hochschule mit der Erforschung der Urner Zwangsmassnahmen beauftragt. Ein Bundesgesetz von 2016 verpflichtet die Kantone dazu, ihre Vergangenheit diesbezüglich aufzuarbeiten.

Oft war keine Arbeit zu finden

Romed Aschwanden, Historiker.
Bild: Bild: Florian Arnold

Die Gründe für eine Zwangseinweisung in eine Arbeitsanstalt waren dabei vielfältig, wie die Analyse von Dokumenten aus den Gemeindearchiven und dem Urner Staatsarchiv sowie Aussagen noch lebender Betroffener ergeben haben. Bei den Männern, die etwas häufiger Opfer von solchen Massnahmen wurden als die Frauen, konnten Alkoholabhängigkeit, Straffälligkeit oder auch «Arbeitsscheu» zur Wegsperrung führen. Wer dabei als Alkoholiker galt, das legten die Urner Behörden nach eigenem Ermessen fest und wurde teils willkürlich entschieden, wie Aschwanden sagt.

«Es konnte beispielsweise ausreichen, dass jemand am Sonntag nicht in die Kirche kam, weil er am Tag zuvor einen über den Durst getrunken hatte.»

Bei anderen Betroffenen seien aber durchaus schwerwiegende Alkoholprobleme vorhanden gewesen.

Auch bei der attestierten «Arbeitsscheu» herrschte grosse Willkür. Vielfach hätten die betroffenen Personen zwar eigentlich arbeiten wollen, konnten aber schlicht keine Arbeit finden. Das wurde vor allem Tagelöhnern zum Verhängnis, die im Sommer vielleicht auf einer Alp mithalfen, im Winter dann aber keiner Tätigkeit nachgehen konnten, so Aschwanden. «Diese Leute waren nicht arbeitsscheu, der Markt bot ihnen einfach keine Möglichkeiten.»

Gerade im Kanton Uri sei die Arbeitslosigkeit ein häufiger Grund für eine Zwangsmassnahme gewesen, wie Aschwanden weiter erläutert. Er vermutet, das könnte mit den vielen Berggemeinden zusammenhängen, die finanziell schlecht dastanden. Statt die Arbeitslosen finanziell zu unterstützen, sei es die Gemeinden nämlich günstiger gekommen, sie wegsperren zu lassen.

Rekurs blieb in der Regel erfolglos

In den Arbeitsanstalten, in denen sie schliesslich landeten, hätten sie «harte Arbeit und teilweise demütigende Behandlungen» erwartet, wie der Historische Vereins Uri beschreibt. Urnerinnen und Urner kamen beispielsweise in die Zwangsarbeitsanstalt Kaltbach in Schwyz. Dabei sei den Betroffenen oft auch nicht bekannt gewesen, wie lange sie in den Anstalten bleiben mussten. Nach welcher Zeit sie letztlich wieder entlassen wurden, sei sehr unterschiedlich gewesen, so Aschwanden. Es konnte jedoch mehrere Jahre dauern. Wie es für die Betroffenen danach weiterging, sei eher schlecht dokumentiert. Teilweise wurden Entlassene später erneut eingewiesen.

Rechtlich gesehen war diese Vorgehensweise damals korrekt. Die Grundlagen dazu waren im Schweizerischen Zivilgesetzbuch zu finden, vor 40 Jahren wurden sie schliesslich angepasst. Manche Urner Betroffene hätten durchaus auch versucht, gegen eine Zwangsmassnahme rechtlich vorzugehen, wie Aschwanden weiter sagt.

«Zumindest in Uri war ein Rekurs aber häufig nicht erfolgreich.»

Rekursbehörde war der Urner Regierungsrat. Und der habe oftmals die Gemeindebehörden unterstützt, was wohl auch der Kleinräumigkeit Uris geschuldet sei. So seien denn auch keine erfolgreichen Beschwerden in Uri bekannt. Das bedeute aber nicht, dass deswegen alle Entscheide des Regierungsrats falsch gewesen seien, so Aschwanden.

Klosterfrauen bestimmten Alltag der Kinder

Bei Frauen führten oft andere Gründe zu einer Zwangsmassnahme. Ihnen konnte «unsittliches Verhalten» vorgeworfen werden, wenn sie beispielsweise ein uneheliches Kind hatten. «Das wurde im katholischen Kontext als sehr schlimm bewertet.» Landete die Frau dann in einer Arbeitsanstalt, gelangte das Kind zu Verwandten, wurde verdingt oder in ein Kinderheim eingewiesen – zum Beispiel in jenes in Altdorf. Dort sorgten Klosterfrauen für einen stark strukturierten Arbeitsalltag, in dem religiöse Rituale wie das Beten eine grosse Rolle spielten. Auch Isolation, Blossstellung und Bestrafung seien dabei an der Tagesordnung gewesen.

Kinder und Klosterfrauen vor der «Kantonalen Erziehungsanstalt für arme und verwahrloste Kinder», dem Kinderheim in Altdorf.
Bild: Bild: Staatsarchiv Uri/PD

Bis 2018 konnten sich noch lebende Betroffene beim Bund melden, der ihnen eine gewisse Entschädigungszahlung zukommen liess. Rund 25 Personen aus Uri haben davon Gebrauch gemacht. Das dürften aber nicht alle Betroffenen gewesen sein, vermutet Aschwanden. Auch wenn das verursachte Unrecht nicht wieder gutgemacht werden könne, sei es wichtig, die Thematik aufzuarbeiten. Für Romed Aschwanden ist klar:

«Für die Anerkennung des Unglücks ist es unabdingbar, das Geschehene zu dokumentieren.»

Hinweis: Die rund 150-seitige Studie ist im neuen Historischen Neujahrsblatt Uri zu finden. Die Vernissage findet am kommenden Freitag um 19 Uhr im Historischen Museum Uri statt.

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