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Luzern

Luzerner Schulpsychologin: «Von Kindern wird heute mehr verlangt»

Mit der Gründung des Schulpsychologischen Diensts war die Stadt Luzern vor 75 Jahren Pionierin. Die Aufgaben der Anlaufstelle haben sich seither stark gewandelt – etwas ist jedoch gleich geblieben.
Die Schulpsychologie der Stadt Luzern hat sich seit ihrer Gründung vor 75 Jahren stark gewandelt. (Symbolbild Getty)
Ruth Enz. Bild: PD

Stefan Dähler

Stefan Dähler

«Die Ausscheidung aller geistig und körperlich Minderwertigen sollte mit der 3. Klasse abgeschlossen sein.» Diese befremdliche Aussage machte ein offizieller Vertreter des Luzerner Lehrervereins Anfang der 1940er-Jahre.

Auch wenn die Worte für uns schockierend wirken, so steckt zumindest ein heute noch gültiger Ansatz dahinter: Nämlich, dass sich nicht allein die Lehrpersonen um Probleme wie Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwierigkeiten kümmern können, sondern dass es dafür Psychologen und Heilpädagogen braucht. Genau deshalb wurde 1943 der Schulpsychologische Dienst der Stadt Luzern gegründet. Der Dienst heisst heute noch so – und zum 75-Jahr-Jubiläum stöberte die Leiterin Ruth Enz in den Archiven. Dabei ist sie auf eine Vielzahl an Dokumenten aus den vergangenen acht Jahrzehnten gestossen, welche interessante Abbilder der jeweiligen Zeitgeiste sind.

Wandel setzte erst in den 80er-Jahren ein

«Mit der Gründung eines Schulpsychologischen Diensts war die Stadt Luzern damals Pionierin in der Zentralschweiz», sagt Ruth Enz. Doch das Selbstverständnis der damaligen Behörde hatte wenig mit den heutigen Auffassungen zu tun – das zeigt das eingangs erwähnte Zitat. Der Dienst klärte vor allem Kinder mit Lern- und Verhaltensproblemen ab, welche dann an Hilfsklassen, Sonderschulen oder Heime zugewiesen wurden.

Immerhin gab es auch erste Ansätze von Erziehungsberatung für Eltern. «Man wusste schon damals, dass das Elternhaus bei der Entwicklung der Kinder eine wichtige Rolle spielt», sagt Ruth Enz und fügt sogleich an: «Dass sich auch die Schule selber den Bedürfnissen der Kinder anpassen muss, war hingegen sehr lange kaum ein Thema.» Erst in den 80er-Jahren reifte die Erkenntnis, dass die Schule flexibler auf Veränderungen reagieren sollte. Am Grundsatz, Kinder mit Problemen in gesonderten Klassen zu unterrichten, wurde allerdings noch nicht gerüttelt. Erst in den 90er-Jahren führten erste Gemeinden die «Integrierte Förderung» (IF) ein.

«Das frühere Modell war nicht einfach schlecht»

In der Stadt Luzern dauerte es bis 2011, bis die Kleinklassen durch die Integrative Förderung ersetzt wurden. Gleichzeitig wurde auch die Integrative Sonderschulung etabliert. Doch der Systemwechsel hat auch seinen Preis. Die enorme Bandbreite vom geistig Behinderten bis zum Hochbegabten in derselben Klasse führt Lehrpersonen und Eltern zunehmend an ihre Grenzen. Kritiker sagen, das Modell «IF» sei gescheitert. Was sagt Ruth Enz dazu? «Das frühere Modell war sicher nicht einfach schlecht. Es gab ganz tolle Kleinklassen-Lehrpersonen, die sich mit Herz und Seele für ihre Kinder einsetzten.» Andererseits hätten diese Kinder auch unter der Stigmatisierung gelitten. Hinzu kämen gesellschaftliche Entwicklungen, die ganz klar in Richtung Integration statt Separation gehen.

«Unsere Gesellschaft ist wohlhabender geworden. Daher ist es auch richtig, dass man mehr Geld für die Unterstützung von Benachteiligten ausgibt.»

Ruth Enz, Schulpsychologischer Dienst



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Apropos gesellschaftliche Tendenzen: Dienste wie die Schulpsychologie stehen bisweilen in der Kritik, weil die Kinder zunehmend «übertherapiert» würden. Werden banale Probleme tatsächlich zu Krankheiten herauf stilisiert? Oder haben die heutigen Kinder tatsächlich mehr Probleme als früher? Ruth Enz hält zunächst fest, dass man dem Kind als Individuum heute mehr Beachtung schenkt als früher – und, dass auch mehr Mittel zur Verfügung stehen. «Wir sollten das aber positiv sehen: Unsere Gesellschaft ist wohlhabender geworden. Daher ist es auch richtig, dass man mehr Geld für die Unterstützung von Benachteiligten ausgibt.»

Hinzu komme, dass die Anforderungen an die heutigen Kinder sehr viel anspruchsvoller geworden seien. «Die Leistungen, die den Kindern heute abverlangt werden, sind um einiges komplexer als früher.» Ruth Enz denkt dabei etwa an den Umgang mit neuen Medien oder an veränderte Lebensformen, die zunehmende Mobilität und die Integrationsleistung von Migrantenfamilien. Kommen dann massive familiäre Probleme oder traumatische Erfahrungen dazu, könne dies zu Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwierigkeiten führen. «Die Komplexität der Probleme hat in den letzten Jahren extrem zugenommen», sagt Ruth Enz.

Eltern sind kritischer geworden

Auch die Eltern seien deutlich kritischer und selbstbewusster geworden. «Für uns sind sie auch interessanter geworden», fügt Enz hinzu. Denn heutige Eltern seien eher bereit, den Problemen auf den Grund zu gehen und selber zu einer Verbesserung beizutragen. Nur in einem unterscheiden sich die modernen Eltern kaum von denjenigen von damals, sagt Ruth Enz: «Alle wollen grundsätzlich das beste für ihre Kinder.»

Ruth Enz (59) ist seit 15 Jahren Leiterin des Schulpsychologischen Diensts der Stadt Luzern.

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