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Luzern

Der Frauenstreik in Luzern: Ein Aufschrei in violett

Tausende Frauen und Männer haben am Freitag in Luzern für Gleichstellung demonstriert. Der Aufschrei sollte kein einmaliges Ereignis sein. Sondern der Anfang einer wiedererstarkten Bewegung.
Beim Frauenstreik marschierten Frauen und Männer durch die Stadt und forderten um Gleichstellung.(Bild: Pius Amrein, Luzern, 14. Juni 2019)

Kilian Küttel

Und dann wird es laut. Als der Stundenzeiger zur Elf springt, gehen Hunderte Wecker los. Sie klingeln, trällern, fiepen, lärmen. Hunderte klatschende Hände, Hunderte schreiende Stimmen. Eine kollektive Entladung von Unzufriedenheit, die sich über Jahre hinweg aufgebaut hat und sich jetzt entlädt. In einer Sekunde. Ausgelöst durch den trivialen Akt eines sich bewegenden Zeigers.

1000 Demonstrantinnen um 11 Uhr morgens

Das war er also, der symbolische Weckruf zum Luzerner Frauenstreik. Laut Schätzungen der Luzerner Polizei demonstrierten am Freitag Vormittag 1000 Personen auf dem Luzerner Theaterplatz. Vereinzelt Männer, in der erschlagenden Mehrheit Frauen.

Wie überall im Land. Und sie forderten das gleiche wie die Menschen in Zug oder Schwyz. Wie in Langenthal oder Bern. Wie in Zürich oder der Romandie: Gleichstellung der Geschlechter, ein Ende der Diskriminierung von Frauen. Gleichen Lohn für gleiche Arbeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Schluss mit Sexismus und Gewalt gegen das weibliche Geschlecht.

Die Farbe Lila

Dafür gingen sie an diesem 14. Juni auf die Strasse. Auf den Tag genau 28 Jahre nach dem letzten landesweiten Frauenstreik, an dem eine halbe Million Frauen teilnahmen. Am 14. Juni 2019 waren es Teenager und Seniorinnen, Studentinnen und Selbstständige, Angestellte gleich wie Mütter mit ihren Kindern.

Ihr Anspruch nach Gleichstellung trug die Farbe Lila. Lila, überall. Auf Transparenten, T-Shirts, Tüchern, Taschen. Versehen mit dem Venussymbol, dem nach unten gerichteten Kreuz und einem Kreis. In dessen Mitte stand eine zur Faust geballte Hand, das Zeichen der Bewegung. Es war ein Aufschrei in violett.

Ein Auftakt wie ein Donnergrollen

Ein Aufschrei, in dessen geografischen Zentrum eine Bühne stand, die vor dem Theaterplatz errichtet wurde. Es ist 11.08 Uhr, als Noemi Grütter von Amnesty International Schweiz eben diese Bühne betritt. Sie ist die erste von vielen Rednerinnen an diesem Tag. Sie eröffnet den Streik in einer Weise, dass auch der Hinterletzte zuhören muss. Mit der Gewalt eines hereinbrechenden Gewitters schmettert sie ihre Parolen ins Publikum. 16 Minuten lang:

«Wir streiken, weil jede fünfte Frau in der Schweiz sexuelle Gewalt erlebt hat.»

Die Masse hängt an ihren Lippen.

«Wir streiken, weil man sich noch heute vor Menstruationsblut ekelt aber Vergewaltigungspornos boomen.»

Die Masse ist der selben Meinung.

«Wir streiken, weil die Frauen, die 1991 gestreikt haben, auch heute noch streiken.»

Die Masse jubelt Grütter zu.

Die blonde Frau in schwarzen Kleidern mit gelbem Stirnband erhebt ein Glas:

«Es ist genug. Wir brechen das Schweigen über alltägliche Gewalt und Diskriminierung. Darauf, dass es heute nicht endet, sondern weitergeht, bis wir in der Schweiz endlich Gleichstellung erreicht haben.»

11.24 Uhr, Grütter trinkt, die Rede endet, der Jubel bleibt.

Der Weg ist begonnen, doch nicht zu Ende gegangen

Noemi Grütter sprach aus, was viele denken, die an diesem Freitag auf den Theaterplatz gekommen sind. Wie Joy Wyler, 47 Jahre alt, Stadtluzernerin: «Ich erlebe immer wieder Momente, in denen die Rechte der Frauen zu kurz kommen. Seit dem letzten Frauenstreik 1991 hat sich einiges getan, wir sind auf dem richtigen Weg. Aber noch nicht am Ende.»

Daneben steht ihre Freundin Ulrike Gocht. Man kennt sich aus dem Quartier. Die gebürtige Deutsche und Mutter zweier Kinder im Schulalter pflichtet ihrer Kollegin bei:

«Einige Schritte haben wir gemacht, wir können heute Selbständig sein, selber entscheiden, was wir tun wollen. Aber es reicht noch nicht.»

Sie spricht die Vereinbarkeit von Familie und Berufsleben an, die in Deutschland um einiges besser sei als hier. Und Joy Wyler ergänzt: «Es geht nicht darum, die Stellung des Mannes zu verschlechtern. Aber wir wollen Chancengleichheit. Für alle.» Alle – Frauen und Männer, Schweizerinnen und Ausländer.

Gleiches Recht - auch für die Männer

Dass der Streik jedem offenstand, der die Anliegen teilte, war augenfällig. Und die Sprache zweitrangig. Die Schilder waren beschriftet mit Sprüchen in Deutsch, englisch oder persisch. «Equal rights for me, my mom, for everyone», stand auf dem T-Shirt eines Kleinkindes. Gleiche Rechte für alle.

Gleiche Rechte auch für die Männer, die sich mit den Frauen solidarisierten. Recht zum Streiken. Auch für den Luzerner Künstler Marcel Glanzmann. Schon immer habe er die Anliegen der Frauen unterstützt:

«Auch wenn ich Diskriminierung im Alltag verhältnismässig selten spüre, ist es doch nichts als richtig und notwendig, ein Zeichen zu setzten.»

Dafür, dass das Thema wieder aufs Tapet komme. Dass man hinschauen müsse und nicht weghören könne.

Das geschah spätestens um 16.41 Uhr. Nach mehreren Workshops, Reden und Darbietungen – wie von der Brunner Autorin Martina Clavadetscher zusammen mit Isa Wiss oder der Luzerner Slam Poetin Lisa Brunner – startete zu dieser Zeit der Höhepunkt des Frauenstreiks, die Demonstration durch die Luzerner Altstadt.

3000 Personen marschierten durch die Altstadt

Schätzte die Luzerner Polizei die Teilnehmerzahl am frühen Nachmittag noch auf 1000 Personen, waren es um 16.41 gut 3000, die sich gemächlichen Schrittes dem Tross anschlossen. Das Streikkomitee geht gar von 5000 bis 6000 aus. Darunter deutlich mehr Männer als wenige Stunden zuvor. Kurzfristig musste die Seebrücke gesperrt werden. «Gleichstellung – Taten statt Worte», oder «Ich will keinen Papi-Tag, ich will fifty-fifty», stand auf den Transparenten.

Zu Sirenengeheul und Pfiffen skandierten die Demonstranten Parolen wie «Ah Zelle Bölle Schelle, ufe mit de Fraue-Chöle.» Richtig laut wurde es, als der Zug das Regierungsgebäude passierte. Pfiffe und Buhrufe erschallten, die rein männliche Regierung holte sich gestern keine Sympathiepunkte ab.

Nicht das Ende; der Anfang

Auch nicht bei SP-Kantonsrätin Ylfete Fanaj, die in einer Rede vor dem Regierungsgebäude die Exekutive aufrief, mehr in Gewaltprävention und Gewaltschutz für Frauen zu investieren. Und die Forderung nach Frauen in der Regierung brachte ihr tosenden Applaus ein.

Fanaj gehörte zum Streikkommitees, gleich wie die 22-jährige Lorena Stocker aus Rain. Diese sagte zu unserer Zeitung:

«Dass so viele Leute hier sind, zeigt wie wichtig unsere Anliegen sind. Das stimmt mich optimistisch für die Zukunft.»

Denn mit dem Frauenstreik soll es nicht zu Ende sein. Stocker: «Wir wollen weitermachen, uns regelmässig treffen, noch mehr Aktionen durchführen und uns weiter einsetzen. Das hier ist der Start einer Bewegung, nicht das Ende einer Kampagne.»

Mut schöpfen können die Demonstrantinnen aus einem ersten Erfolg: Wie der Schweizerische Gewerkschaftsbund mitteilt, werden Mitarbeiterinnen einer Luzerner Reinigungsfirma wegen des Frauenstreiks neu für Vor- und Nachbearbeitungsarbeiten sowie Reisezeit entschädigt.

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