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Luzern

Jugendkrawall: Als Luzern vor 50 Jahren sein böses Erwachen erlebte

Ein halbes Jahrhundert ist es her, als eine aufgebrachte Jugend die Hauptwache der Luzerner Stadtpolizei belagerte. Dieser «Aufstand gegen die Ordnung» erschütterte das konservativ bürgerliche Luzern in den Grundfesten – und führte zu heftigen Reaktionen.
«Nazis», «Mörder» und «Dreckschroterei»: Ein junger Mann poltert gegen das Haupttor des Luzerner Stadtpolizeipostens an der Obergrundstrasse 1. (Bild: Keystone)
Zeitweise blockierten die Demonstranten auch den Pilatusplatz. (Bild: Keystone) 

Raphael Zemp

Raphael Zemp

Fäuste und Schuhsohlen trommeln an das Haupttor des Luzerner Stadtpolizeiposten. Schneebälle und Steine prasseln gegen die Fassade. Fenster zersplittern. In der Samstagnacht vom 4. auf den 5. Januar, vor genau 50 Jahren, war etwas los in der «spiessigen Kleinstadt»* Luzern. Hunderte Personen belagerten die Polizei-Kaserne an der Obergrundstrasse 1, versuchten immer wieder in sie einzudringen, skandierten lautstark «Mörder», «Nazi» aber auch «Stadtpolizei – Dreckschroterei».

Was war passiert? Fünf Tage zuvor war der 23-jährige Kurt Buff von der Baselstrasse in einer Arrestzelle der Stadtpolizei verstorben. Dort landete er, weil er seine Mutter bedroht hatte. Warum es aber zum tragischen Todesfall kam, darüber klärten die Behörden nur zögerlich auf, ein erstes Communiqué enthielt zudem einige Ungenauigkeiten, ja Fehler. So dampfte das Gerüchte-Gulasch bald. Und es dauerte nicht lange, da glaubte die Boulevardpresse zu wissen: Es war eine Prügelorgie. Die Polizei hat Buff ins Jenseits gedroschen! An diese Erklärung glaubt Buffs Bruder bis heute.

Erzürnte Jugend marschiert trotz Demo-Absage auf

Die offiziellen Untersuchungen hingegen gelangten zum Schluss: Buff hat sich das Leben genommen, mit einer Überdosis Schlafpillen. Bis aber dieser Befund vorlag, sollte es über anderthalb Wochen dauern. Zu lange für all jene, die längst ihr Vertrauen in die repressive «Dreckschroterei» verloren hatten. Und das wollte man sie wissen lassen. Ein «Aktionskomitee Freier Bürger» plante deshalb eine Demo, die allerdings auf Anraten der Behörden noch am Samstagmittag abgesagt wurde. Es änderte aber nichts. Der «langhaarige Sturmtrupp» ergoss sich an diesem Januarabend gleichwohl auf die Strasse, das «Hippie-Heer» umstellte die Polizeiwache, um es den Knüppelschwingern heimzuzahlen, den «Mördern» von Kurt Buff.

Die Polizei indes liess sich von der «tobenden Meute» nicht provozieren, die 126 Mann hatten sich auf Geheiss des Liberalen Stadtpräsidenten und damaligen Generalstabsobersten Hans Rudolf Meyer im Gebäudeinnern verschanzt. Im Gegensatz zu den Zürcher Globuskrawallen im Juni zuvor kam es so zu keinem offenen Schlagabtausch. Einzig Beamte in Zivil schwärmten aus, mischten sich mit umgehängten Kameras unter die «Halbstarken», die «jugendliche Provokateure und Randalierer» und lichteten sie unentwegt ab. Um halb vier Uhr morgens schliesslich vertrieben Wasserwerfer die letzten «Helden für eine bessere Zukunft» in die bitterkalte Nacht. Nach über sieben Stunden Tumult kehrte wieder Ruhe ein, die «Krawall-Orgie» war zu Ende.

Die Bilanz der «Luzerner Nacht der Nächte»: Zwei unterkühlte, ins Spital eingelieferte Demonstranten, ein leicht verletzter Polizist, 126 zerschmetterte Scheiben (für jeden verbarrikadierten Polizisten eine, welche Symbolik!) - ein Sachschaden von über 6000 Franken. Vor allem aber eine Stadt, die sich verwundert die Augen rieb ob ihrer «irregeleiteten Jugend». Ja gar die ganze Nation war überrascht von diesem «Aufstand gegen die Ordnung», den die «Lederbejackten», die «langmähnigen Schleuderer» gewagt hatten! Immerhin das Ausland habe kaum Notiz genommen, bemerkte die «Luzerner Neuste Nachrichten» («LNN») erleichtert.

Zeitung attestiert: «Deprimierende Primitivität»

Verständnis für die «jugendlichen Unruhestifter» gab es so gut wie keines. Selbst die «LNN», die gesellschaftsliberalste der vier Luzerner Tageszeitungen, attestierte ihnen «eine geradezu deprimierende Primitivität». Und das «Vaterland» wusste über einen mutmasslichen «Haupträdelsführer» aus Zürich zu berichten: «Bei ihm hat man es offenbar freilich nicht nur mit einem primitiven Rohling und geistig unbedarften, sondern mit einem gesellschaftlichen Desperado zu tun, der weniger ein Fall für die Kriminalpolizei als für die Psychologen sein dürfte.»

Auch viele Leserbriefschreiber hielten sich nicht zurück. Dieses «Gesindel» gehöre an den Pranger, forderte einer. Eine «Resozialisierung» sei bei den wenigsten zu erreichen, glaubte ein anderer. Für einen Dritten war klar: «Das Ganze schmeckt nach Kommunismus», und ein Vierter fand: «Eine Bürgerwehr wäre heute das Richtige.»

Letztlich wurden 106 Personen wegen Landfriedensbruch strafrechtlich verfolgt und solidarisch zur Zahlung der Sachschäden verurteilt. Bürgerwehren hingegen patrouillierten keine auf Luzerns Strassen.

*Dieser sowie weitere angeführte Begriffe stammen aus der damaligen Berichterstattung über die Luzerner Krawallnacht («Vaterland», «Tagblatt», «LNN» und «Blick»).

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