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Zug

IV-Fall: Das Richtergremium steckt in einer Zwickmühle

Das erstinstanzliche Urteil ist 127 Seiten lang. Das Protokoll des ersten Verhandlungstages füllt 65 Seiten. Nun sind die Oberrichter gefordert.

«Mein Name ist Kuhn», sagte der Oberrichter und Referent bei der gestrigen Verhandlung in einer Invalidenversicherungssache am Ende seiner Begrüssungsrunde (Ausgabe vom 28. Februar). Es fehlte nur der Zusatz «Paul Kuhn». Ob der erfahrene Richter verbal auf James Bond machen wollte? Mit dem britischen Geheimagenten, der seit 1962 auf Grossleinwand wiederholt die Welt rettet, hat Kuhn definitiv nichts am Hut. Bond pflegt Probleme brachial zu lösen, der Oberrichter Paul Kuhn versucht, auf die sanfte Tour ein befriedigendes Ergebnis aufzuzeigen.

Dass die Wahrheitsfindung einer Geduldsprobe gleichkommt, hat schon der erste Prozesstag gegen ein Ehepaar, das IV-Gelder ertrogen haben soll, vor zwei Wochen gezeigt. Oberrichter Paul Kuhn sagt nur: «Das Protokoll des ersten Verhandlungstages umfasst 65 Seiten.» Das Urteil des Strafgerichts, auf dem der Prozess basiert, hat einen Umfang von 127 Seiten. Es ist ein Schriftstück, das in gewissen Passagen eher in eine gynäkologische Vorlesung gehört als in ein begründetes Verdikt. Um es etwas salopp auszudrücken: Die Beschuldigte ist in der unteren Körperhälfte entblösst worden.

Hat die Beschuldigte simuliert oder nicht?

Zudem hätten Mediziner festgestellt, wie im Gerichtssaal im Alten Zeughaus zu hören war, dass die Beschuldigte Lupina S. über eine «unterdurchschnittliche Intelligenz» verfüge. Ihr Verteidiger kommt deshalb zum Schluss, dass seine Mandantin «unmöglich simuliert hat». Er fährt dann fort: «Die Frau hatte es wirklich schwer.» Dieser Feststellung mag derjenige zustimmen, der die Beschuldigte an beiden Prozesstagen gesehen hat. Sie schien zwar etwas gefasster zu sein als im ersten Teil der Verhandlung. Ihre Stimme bleibt aber kaum hörbar.

Der Referent Paul Kuhn muss sie auffordern, etwas lauter zu sprechen. Sie sagt in ihrem Schlusswort sinngemäss: «Ich bitte Sie, sich in meine Lage zu versetzen. Sie haben vieles gehört, vieles stimmt, vieles nicht. Sie kennen aber nur 30 Prozent meines Lebens. Mehr nicht. Eines kann ich sagen: Ich war immer ehrlich zu den Leuten. Meine Familie hat mich immer wieder aufgebaut, damit ich funktioniere. Ich habe mir immer Mühe gegeben.»

Die schwierige Suche nach der geforderten Arglist

Die Vorinstanz hat das Ehepaar des gewerbsmässigen Betrugs für schuldig erklärt. Der Verteidiger von Lupina S. stellt denn auch die Fragen nach dem Tatmotiv seiner Mandantin. Er fände «keinerlei Indizien» für diesen Vorwurf. Zudem wisse jeder, der eine Strafrechtsvorlesung besuche, wie schwer die Arglist im Zusammenhang mit Betrug zu beweisen ist. Deshalb hat der Verteidiger von Lupina S. am Schluss festgestellt: «Setzen wir dem Prozess ein Ende.»

Das dürfte sein Berufskollege, der Ari S. verteidigt, nicht anders sehen. Er sagt: «Das ist kein Schauspiel, das ist ein Trauerspiel.» Hinterher bemüht sich der Beschuldigte, die Gutachter in diesem Verfahren zu entkräften. Wie schon am ersten Prozesstag verheddert er sich immer wieder und driftet vom Thema ab. Einmal sagt er, dass er 2862 Dossiers zusammengetragen habe. Der Umfang erstaunt eigentlich nicht, denn gewisse Ereignisse liegen mehr als zwei Jahrzehnte zurück. Er scheint dabei aber nicht nur Gerichtsakten gesammelt zu haben, sondern ist auch auf Experten zugegangen. Diese hätten ihm alle gesagt: «Das kann nicht sein.»

Ehemann verteidigt seine Frau

Weiter fällt bei der Verhandlung auf, dass Ari S. nicht in erster Linie sich, sondern seine Frau verteidigt. Im Urteil des Strafgerichts von 2017 steht der Satz: «Er habe viele Hobbys, übe aber keines aus, weil er eine kranke Frau zu Hause habe.» Nach 45 Minuten sagt Ari S. plötzlich: «Fertig, es ist genug. Die Staatsanwältin hält derweil – erwartungsgemäss – an der Anklage fest. Sie bringt nur ein ausgedrucktes Exemplar ihres Plädoyers in den Gerichtssaal. Wohlwissend, dass noch anderen im Saal eine Kopie dieses Schriftstück zusteht. Die fehlende Leidenschaft in der Sache mag auch daher rühren, dass die Staatsanwältin den Fall von einem Kollegen geerbt hat, der jetzt in anderer Stellung tätig ist.

Die Oberrichter sind bei der Urteilsfindung nicht zu beneiden. Ob Lupina S., die in den vergangenen Jahren kaum aus den eigenen vier Wänden herausgekommen ist, eine unbedingte Strafe von einem halben Jahr antreten kann? Diese hatte das Strafgericht ausgesprochen. Ihr Ehemann soll für 12 Monate ins Gefängnis und würde nach eigenem Bekunden so seine Stelle verlieren. Es ist eine Zwickmühle.

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