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Uri

Im Mittelalter genoss das Urserntal weitgehende Autonomie

Der Historiker Martin Schaffner durchleuchtet in einem Gastbeitrag die Geschichte des Urserntals. Für eine kurze Zeit war die Talschaft sogar ein «eigener Staat».
Gerichtsschwert aus dem 15. Jahrhundert, Symbol der höchsten Gerichtsbarkeit (Rathaus von Andermatt). (Bild: pd)
Der Turm von Hospental entstand im 13. Jahrhundert bevor das Urserntal «unabhängig» wurde. (Archivbild: Anian Heierli)

Martin Schaffner

Das Urserntal ein eigener Staat? Das kann sich heute niemand vorstellen. Doch im Mittelalter war die Talschaft für kurze Zeit ein unabhängiges, weil «reichsfreies» Gemeinwesen. 1382 hatte der deutsche König Wenzel als oberste Instanz des Reichs ein Dokument unterschrieben, den «Wenzelbrief», in dem die Talschaft Ursern zum «unmittelbaren Reichsland» erklärt wurde. Festgelegt wurde, dass die Talleute in jährlichem Turnus einen im Tal lebenden Mann als Ammann bestimmen sollten. Und dass dieser über die Kompetenz verfüge, als höchster Richter im Tal Recht zu sprechen. Die Urkunde wird im Talarchiv in Andermatt aufbewahrt, und noch heute erinnert im Rathaus ein Gerichtsschwert daran, dass als höchster Richter ein Einheimischer amtete.

Damit war die Talschaft zwar kein Staat im modernen Sinn, aber sie genoss eine weitgehende Autonomie, war damit vor landesherrlichen Herrschaftsansprüchen geschützt, war also niemandem untertan. Das war keineswegs ein rein symbolischer Akt, denn indem sie keinem Landesherren Abgaben entrichten musste (wie das anderswo der Fall war), konnte die Talschaft selbst über die Einkünfte aus dem Passverkehr verfügen. Sogleich machten sich die Landleute von Ursern auch daran, eigene Gesetze zu erlassen, so das Talrecht von 1396 oder den Bannbrief von 1397 zum Schutz des Waldes oberhalb von Andermatt.

Konflikte mit Mailand im 15. Jahrhundert

Nach wenigen Jahrzehnten änderte sich der staatsrechtliche Status von Ursern erneut. 1410 schloss die Talschaft mit dem Land Uri ein sogenanntes «Landrecht» ab. Die Gründe dafür lagen in der Expansion Uris nach Süden und den damit verbundenen Konflikten mit dem Herzogtum Mailand. Durch diesen Vertrag wurden die «Tallüt von Ursären ewig Lantlüt zu Ure» (Iso Müller, 24). Die Talschaft musste Rechte an Uri abtreten und bestimmte Verpflichtungen eingehen. So vertrat das Land Uri fortan Ursern nach aussen, konnte die Talschaft zu bewaffneten Einsätzen verpflichten und Einfluss auf die Wahl der Richter nehmen. Doch das Talrecht und seine Gerichte verblieben in der Verfügung des Tals ebenso wie die Allmenden, die Alpen und der Gotthardverkehr (das Säumerwesen).

Das änderte sich 1888 durch die Revision der Urner Kantonsverfassung. Damals verlor Ursern auch die letzten noch verbliebenen staatsrechtlichen Kompetenzen und wurde (wie die Korporation Uri auch) als Korporation Ursern in eine Körperschaft des öffentlichen Rechts umgewandelt. Damit wurde eine einschneidende Veränderung im Verhältnis zwischen dem Kanton und der Talschaft eingeleitet. Denn unter der bisher geltenden Kantonsverfassung von 1850 war Ursern ein «Bezirk» gewesen, bestehend aus einer einzigen Talgemeinde, die alle vier Dorfschaften (mit Zumdorf) umfasst hatte. Als politische Gemeinde war der Bezirk Ursern mit den entsprechenden Rechten ausgestattet gewesen und hatte darum auch Steuern erhoben. Das war einer öffentlich-rechtlichen (Personen-) Körperschaft verwehrt. Für die Zeitgenossen aus Ursern war der Verlust ihrer Rechte zugunsten von Gemeinden und Kanton eine bittere Erfahrung.

Plötzlich in der Minderheit

Im Verfassungsrat waren die vier Vertreter aus Ursern hoffnungslos in der Minderheit, ihre Anliegen (wie die Beibehaltung der Bezirke) fanden kein Gehör. An der entscheidenden Urner Landsgemeinde stimmten die Bürger aus dem Tal denn auch geschlossen gegen die neue Kantonsverfassung. Auf die Annahme reagierte die Korporationsbehörde (der Engere Rat) mit einem Protest an den Bundesrat, blieb aber erfolglos.

Die Weigerung des Verfassungsrates, die Bezirke beizubehalten und so die Talschaft als politische Gemeinde mit allen Rechten anzuerkennen, belastete in der Folge die Beziehungen zum Kanton auf Jahrzehnte.

Dass der Verlust ihrer faktischen Autonomie viele und gerade die führenden Geschlechter erbitterte, sodass die Erinnerung daran bei älteren Talbewohnern heute noch präsent ist, kann nicht verwundern. Die Zäsur von 1888 ist für die Talschaft Ursern zweifellos mit einer Verlusterfahrung belastet, und Erinnerungen an derartige Erfahrungen sind langlebig. Doch eine einseitig negative Sicht auf die Revision der Urner Kantonsverfassung von 1888 ist fehl am Platz. Durch die Schaffung der Korporation als Körperschaft des öffentlichen Rechts und ihre Ausstattung mit Korporationsgut, wurde die Talschaft zukunftsfähig. Sie erhielt eine Stellung, die dem politischen System und dem Recht des modernen schweizerischen Nationalstaats entsprach.

Als Körperschaft, die für Verwaltung und Nutzung des gesamten Korporationsgutes zuständig war, und damit für Alpen, Waldungen und Gewässer, verblieb der Korporation ein grosser und komplexer Aufgabenbereich. Dieser hat unter veränderten ökologischen Bedingungen heute und zukünftig massiv an Bedeutung gewonnen.

Die als Zurückstufung und Herabsetzung empfundene Neuordnung ihrer Zuständigkeiten und Kompetenzen lähmte im Übrigen die Korporation in keiner Weise. Nach wie vor verstand sie sich neben den politischen Behörden der Gemeinden als legitime Vertreterin der ganzen Talschaft. Sie bemühte sich um Verbesserungen in der Alpwirtschaft und förderte die Bemühungen, einen zeitgemässen Tourismus aufzubauen. Sie investierte in die Bahn durch die Schöllenen, um das Tal an das schweizerische und europäische Eisenbahnnetz anzuschliessen.

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