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Zug

Im Kopf der Straftäter: Ein forensischer Psychiater erzählt

Über 80 Gutachten hat der forensische Psychiater Martin Johansson bereits erstellt. Im Interview spricht er über Herausforderungen seiner Arbeit und verrät, wieso er keine Probleme hat, abzuschalten.
Johansson beim Interview auf einem der Therapiesessel in seiner Praxis. (Bild: Maria Schmid (23. August, 2018))

Interview: Christopher Gilb

Die Praxis des forensischen Psychiaters Martin Johansson befindet sich in einem unauffälligen Bürogebäude in einer Ortschaft am Zürichsee. Der 44-Jährige beurteilt und behandelt hauptsächlich Personen, die einer Straftat beschuldigt werden oder bei welchen eine Therapie gerichtlich angeordnet wurde. Seine Aufträge erhält er, der seine Laufbahn als Gefängnispsychiater begann, von den Staatsanwaltschaften und den Gerichten. Auch für die Zuger Justiz war er schon häufiger im Einsatz. Er ist spezialisiert auf Gewalt- und Sexualdelikte. An zwei Tagen pro Woche hat er Sprechstunde, die restliche Zeit arbeitet er an Gutachten. Sie umfassen bis zu 100 Seiten.

Martin Johansson, was für Gutachten erstellen Sie?Sogenannte Schuldfähigkeitsgutachten beispielsweise. Wenn etwa das Gericht wissen will, ob jemand eine psychische Störung hat und falls ja, ob diese mit dem Delikt zusammenhängt. Auch zur Rückfallgefahr sowie allfälligen therapeutischen Massnahmen muss ich mich äussern. Das Erarbeiten solch umfangreicher Gutachten dauert in der Regel vier bis sechs Monate. Bei Gefährlichkeitsgutachten hingegen geht es darum, die von einer Person ausgehenden Gefahren einzuschätzen. Diese Gutachten werden beispielsweise bei der Entscheidung, ob jemand aus der Untersuchungshaft entlassen wird, mitberücksichtigt. Sie werden innerhalb von wenigen Wochen erstellt. Es geht oft um häusliche Gewalt, also etwa die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Mann nach der Entlassung seine Frau erneut misshandeln würde. Wird bei jeder Straftat ein Gutachten verlangt?Nein. Gutachten werden primär bei Anzeichen für eine psychische Störung in Auftrag gegeben, wobei auch Suchtleiden als solche gelten. Bei sehr schweren Delikten wird jedoch fast immer ein Gutachten verlangt, da viele Straftäter gegenüber der Staatsanwaltschaft Besonderheiten ihrer Stimmung zum Tatzeitpunkt oder den Einfluss von Suchtmitteln angeben. Ihre Anwälte interpretieren dies oft als Schuldminderungsgrund und erhoffen sich eine kürzere Haftstrafe. Die Schuldfähigkeit aus forensisch-psychiatrischer Sicht kann aber nur vom Gutachter bestimmt werden. Öfters habe ich erlebt, dass Anwälte, was die Schuldfähigkeit betrifft, ihre Mandaten als schwer krank ansehen, wenn es aber darum geht, diese aufgrund der Störung in eine therapeutische Massnahme zu schicken, von der Störung nichts mehr wissen wollen oder diese als doch nicht so schwer ansehen. Wie gehen Sie vor?Ich studiere sämtliche Ermittlungsunterlagen sowie anderweitig zugänglichen Akten, wie ärztliche Berichte oder Führungszeugnisse. Erst wenn ich die Akten gut kenne, treffe ich den Beschuldigten. Danach befrage ich häufig sein Umfeld und zum Schluss den Beschuldigten noch einmal, um ihn mit den gesammelten Informationen zu konfrontieren. Und die Beschuldigten wollen reden?Ja, die grosse Mehrheit will das. Viele sind sogar sehr mitteilungsbedürftig. Sie wollen mir sagen, was sich aus ihrer Sicht zugetragen hat und wie es zu dem Delikt kam, weswegen sie im Gefängnis sind. Dann höre ich oft erst eine halbe Stunde lang nur zu. Versuchen die Beschuldigten Sie zu belügen?Praktisch nie. Sie «beschönigen» aber sehr oft das Deliktgeschehen. Beschuldigte weisen die Tendenz auf, sich als sogenannte Situationstäter, also als jemanden, der an sich keine ausgeprägte kriminelle Veranlagung hat und nur aufgrund einer ganz speziellen Situation das Delikt begangen hat, darzustellen. Sogenannte Persönlichkeitstäter begehen Delikte hingegen meist aufgrund von anhaltenden Persönlichkeitsmerkmalen, was sich auch ungünstig auf ihre Prognose bezüglich der Begehung zukünftiger Delikte auswirkt. Das wollen die Beschuldigten nicht. Hinzu kommt der moralische Aspekt: Praktisch niemand möchte als «kriminell» oder «Krimineller» angesehen werden. Wenn jemand ganz offensichtlich lügt und ich ihm das anhand der Akten auch beweisen kann, frage ich ihn dann, ob er sich wirklich sicher ist, dass ich das Gesagte, so aufschreiben soll. Denn auch ich habe schon an einem Abend ein paar Bier getrunken, aber trotzdem keine Frau vergewaltigt. Es muss also noch etwas anderes vorhanden sein.Was wollen Sie dann wissen?Alles, was im Zusammenhang mit der Tat und den Fragen des Gerichts stehen kann. Wenn jemand eine normale Beziehung führt und eines Diebstahls verdächtigt wird, interessiert mich sein Sexualleben weniger als bei einem Sexualstraftäter.Und welche Diagnose stellen Sie am häufigsten?Bei den Beschuldigten, die ich begutachte, sind dass die verschiedenen Formen der Persönlichkeitsstörung, also beispielsweise eine dissoziale Persönlichkeitsstörung.Treten Sie dann auch selbst vor Gericht auf?Heute wird das nach meiner Wahrnehmung zunehmend verlangt. Es ist eine gewisse «Amerikanisierung» der Gerichtsverhandlungen spürbar. Offiziell gelten die Gerichtsparteien als psychiatrische Laien, weshalb wir als Experten ja auch hinzugezogen werden. Deshalb finde ich es schwierig, mir vor Gericht von einem Anwalt anhören zu müssen, dass er irgendwo im Internet etwas über eine Krankheit gelesen habe und deshalb meine Diagnose anzweifelt. Ich versuche, die Gutachten so klar wie möglich zu formulieren. Trotzdem kommt es ab und zu zu Diskussionen. Solange diese inhaltlicher Natur sind, habe ich nichts dagegen. Ich sehe mich als einen Helfer des Gerichts an. Es ist nicht die Aufgabe des Gutachters, herauszufinden, ob jemand eine Straftat begangen hat oder nicht. Wie können Sie von all dem abschalten?Ich empfinde meinen Beruf nicht als besonders belastend. Selten werde ich aber von Personen, die mit meiner Einschätzung nicht einverstanden sind, bedroht. Das ist natürlich unangenehm. Seit ich als forensischer Psychiater arbeite, ist mir sehr bewusst geworden, dass es viele Menschen gibt, die «schräge Sachen» machen. Interessant ist es aber, zu erfahren, wie und weshalb.
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