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Gurtnellen

«Hier werden alle Kinder da abgeholt, wo sie ihre Stärken haben» – Schule mal ganz anders

In der Kreisschule Urner Oberland werden seit fünf Jahren verschiedene Unterrichtsformen entwickelt, die den Kindern neben dem Fächerwissen noch Schlüsselkompetenzen an die Hand geben – und zwar durch Learning by Doing.

Ein Klassenzimmer: In der Mitte ein Kreis aus Holzkisten, Stellwände und Regale, die als Raumteiler wirken. Schultische und Stühle sind in unterschiedlichen Arrangements scheinbar ohne Plan im Raum verteilt. Wo gibt's denn sowas? An der Kreisschule Urner Oberland in den Dörfern Gurtnellen, Wassen und Göschenen, fast ganz hinten im Reusstal auf halbem Weg ins Urner Berggebiet am Gotthard.

Ausgehend von der Erkenntnis, dass Schülerinnen und Schüler unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen und dadurch eine Vielfalt vorhanden ist, bedienen sich die Lehrerinnen und Lehrer an der Kreisschule Urner Oberland bei einer Palette von Instrumenten, um dieser Vielfalt gerecht zu werden.

Der Kreis ist ein zentrales Element aus der Unterrichtsform «Churermodell».
Bild: Bild: Claudia Naujoks (Gurtnellen, 19. September 2022)

Dazu gehören Elemente aus dem sogenannten Churermodell genauso wie die Begabungs- und Begabtenförderung mit dem Lernatelier sowie der Projektarbeit oder die angepassten Lernziele für Schülerinnen und Schüler im Bereich Integrative Sonderschule.

Wer mit den Aufgaben bereits fertig ist, kann in einem anderen Zimmer weiterarbeiten. Dort gibt es ein Regal voller Spiele, wie Ubongo. Und mit Experimenten, wie einer Kugelbahn und Schaukästchen mit Insekten, die unter dem Mikroskop betrachtet werden können.

Kinder wollen lernen

«Es braucht Mut, etwas zu verändern, aber hier war es einfach. Unsere Ideen sind auf fruchtbaren Boden gefallen», freut sich Tamara Arnold, die als Klassenlehrerin und Heilpädagogin tätig ist. Auf die Vielfalt wird in allen Primarschulstufen sowie der Oberstufe auf unterschiedliche Weise eingegangen.

Das Churermodell beispielsweise wird in der 3. bis 6. Stufe angewendet. Das umgebaute Klassenzimmer ist ein Merkmal daraus. Im Zentrum steht der Sitzkreis. Hier treffen sich alle nach einer Ankunftszeitspanne, in der noch Pflichten, wie Hände waschen und Hausaufgaben, erledigt werden können. Dort erhalten die Kinder ihre Lernziele und -aufgaben, der kommende Tag wird besprochen und organisiert, Lehrpersonen geben Inputs, die für alle gedacht sind. Am Ende des Schultages wird im Sitzkreis noch reflektiert, wie es gelaufen ist.

In der Zeit dazwischen verteilen die Schülerinnen und Schüler immer montags eigenverantwortlich 13 Wochenstunden aus Fächern wie Deutsch, Mathe und NMG auf die Woche, der Rest der Wochenstunden ist vorgegeben.

Ausserdem entscheiden sie selber, wann sie welche Aufgaben erledigen wollen. Manchmal auch, ob sie allein, zu zweit oder in der Gruppe arbeiten möchten. Den Ort, an dem sie im Schulzimmer oder Schulhaus währenddessen sein möchten, bestimmen sie. Ebenso, wann sie den Test schreiben möchten.

«Die Rolle des Lehrers hat sich verschoben, vom reinen Wissensvermittler zum Begleiter der Lernenden auf ihrem Weg des Lernens, für das sie nun selbst mehr Verantwortung tragen. Dafür muss man als Lehrperson loslassen, abgeben und darauf vertrauen können, dass sie das gut machen werden. Dadurch, dass die Kinder sich selber Aufträge erteilen und Hausaufgaben geben, identifizieren sie sich mehr damit», schwärmt Tamara Arnold.

Schulleiter Pirmin Stadler präzisiert:

«Das heisst aber nicht, dass man das Kind alleine lässt.»

Dadurch, dass die Lehrpersonen nicht mehr ständig alle Kinder gleichzeitig im Blick haben müssten, weil jedes Kind an seiner selbst gewählten Aufgabe arbeite, entstünden Freiräume, die zur Betreuung jedes einzelnen Kindes genutzt würden.

Jedes Kind hat eine Begabung

Im Rahmen der Begabungs- und Begabtenförderung, einem weiteren wichtigen Element beim Umgang mit der Unterschiedlichkeit, führen alle Kinder von der 1. bis zur 6. Klasse einmal pro Jahr eine Projektarbeit durch. Dadurch wird der Tatsache Rechnung getragen, dass jedes Kind Begabungen hat, auch wenn es zu denen gehört, die sich schulisch eher schwertun. Pirmin Stadler sagt:

«Natürlich erleben Kinder auch bei uns Frustmomente.»

Und: «Umso wichtiger sind Elemente, wie Projektarbeit und Lernatelier, die allen Kindern Erfolgserlebnisse ermöglichen.»

«Hier werden alle Kinder also da abgeholt, wo sie ihre Stärken haben», ergänzt Judith Tresch, die unter anderem in den Bereichen Begabungs- und Begabtenförderung (BBF) sowie Einsatz von digitalen Medien wirkt. In den unteren Jahrgangsstufen werden die Themen vorgegeben und können ausgewählt werden. Auch erstellen die Kinder ein Produkt, zum Beispiel wird festgelegt, dass sie einen Film erstellen sollen.

In den höheren Klassen können die Schülerinnen und Schüler sich völlig frei irgendein Thema aussuchen und entscheiden, welches Produkt sich daraus ergibt und wie sie es präsentieren wollen. Auf Marktständen wurden im letzten Jahr die Produkte dann auch stolz den Eltern gezeigt.

Ob Schreiblandschaften, Mathezirkus oder das Fischzimmer für die Stillarbeit – die Ideen gehen dem innovativen 20-köpfigen Lehrkräfteteam nicht aus, um die intrinsische Motivation fürs Lernen hochzuhalten, indem man jedes Kind da abholt, wo es steht.

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