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Zug

Ein Süchtiger aus Zug erzählt: «Der Alkohol lähmt einen, körperlich und psychisch»

Während im Januar viele auf Alkohol verzichten, leiden schätzungsweise 300'000 Menschen an einer Abhängigkeit. Ein Betroffener spricht über seine Situation.
Der betroffene Zuger rutschte vor rund 20 Jahren in die Alkoholsucht. (Bild: Stefan Kaiser (Zug, 8. Januar 2021))

Rahel Hug

Die erste Begegnung mit dem Alkohol hatte Erwin Frei* bereits im Kindesalter, als sein Vater ihn ins Wirtshaus schickte, um fürs Heuen Bier zu kaufen. Der heute 64-Jährige ist auf einem Bauernhof mit mehreren Geschwistern aufgewachsen. «Wir kühlten das Bier im Brunnentrog und durften jeweils vom Schaum probieren», erinnert sich der Zuger, der bis vor kurzem bei einer grossen Firma tätig war. Seinen ersten richtigen Rausch hatte er in der Kanti-Zeit, mit 16 Jahren. «Ich habe mit zwei Freunden zusammen so viel getrunken, dass ich erbrechen musste.»

Einen solchen Alkoholexzess haben wohl viele in ihrer Jugend schon erlebt. Doch bei Erwin Frei geriet der Konsum zunehmend ausser Kontrolle. Im Militär und im Musik- sowie im Turnverein, denen er angehörte, trank er immer wieder einen über den Durst. «Mein Vater war bereits Alkoholiker, und auch einer meiner Brüder hat Probleme», sucht Erwin Frei nach einer Erklärung für seine Abhängigkeit, in die er Schritt für Schritt hineingeriet. Die Lust, auch daheim und allein zur Weinflasche zu greifen, kam im Alter von etwa 45 Jahren, als er bereits seit längerem verheiratet und zudem Vater von drei Kindern war. «Es gab Spannungen mit meiner Frau», erzählt Frei. «Der Alkohol hat mir geholfen, mich zu beruhigen.»

In die soziale Isolation gerutscht

Bereits seit rund 20 Jahren kämpft der studierte Betriebswirtschafter mit seiner Sucht. Ein halber Liter Wein oder mehr jeden Abend, das war lange Zeit sein Alltag. Zu härterem Alkohol hat er eher selten gegriffen. Er isolierte sich daheim, die Treffen mit Freunden und Bekannten wurden weniger. Keine Gesellschaft, das hiess auch keine unangenehmen Fragen. Er sagt:

«Denn es gab schon Vereinskollegen, die mich aufforderten, doch mit dem Trinken aufzuhören.»

Aber auf diese Stimmen wollte oder konnte Erwin Frei nicht hören, der Alkohol war stets die einfachere Lösung. Das hatte auch Auswirkungen auf sein direktes Umfeld: «Meine Frau hat anfänglich versucht, mich mit Zureden vom Alkohol abzuhalten, hat es aber irgendwann einfach aufgegeben, und meine Kinder haben sich für mich geschämt.»

Eine Flasche Wodka im Auto deponiert

Erwin Frei betont, dass er während der Arbeit nie getrunken habe. «Irgendwie hat es immer funktioniert.» Dies, obwohl seine Leistungsfähigkeit manchmal litt. Es gab Gespräche mit seinen Vorgesetzten, Frei wurde schliesslich frühpensioniert. «In der Schlussphase war es schlimm», erinnert er sich. «Mein Energiehaushalt war am Ende.» Und er gibt zu, dass er zu dieser Zeit eine Flasche Wodka im Auto deponiert hatte. Wieso Wodka? Dieser Schnaps riecht nicht, Aussenstehende können also weniger gut erkennen, ob jemand getrunken hat oder nicht.

Dass der Alkohol ihn auffrisst, ihn kaputtmacht, realisierte der Zuger vor einigen Jahren. Er litt plötzlich an Halluzinationen, hatte Erinnerungslücken, Probleme mit dem Gleichgewicht, manchmal wenig Appetit oder unruhigen Schlaf. In Absprache mit seinem Arbeitgeber und seinem Arzt wurde er ein erstes Mal in die Klinik Zugersee in Oberwil gebracht, wo er einen Entzug durchmachte. Ein weiteres Mal entschied er sich selber für einen Aufenthalt in Oberwil. Insgesamt dreimal war er bereits dort. «Ich fühlte mich auf Anhieb besser, hatte mehr Kraft und Mumm», schildert er. Den Entzug beschreibt er als «gar nicht mal so schlimm».

Daheim keinen Alkohol lagern

Viel schwieriger ist es, danach nicht schnell wieder in alte Muster zurückzufallen. Dabei helfen ihm die Gespräche mit der Suchtberatung. Seit vier Jahren nimmt er die Beratung in unregelmässigen Abständen in Anspruch. Eine Strategie ist es, daheim keinen Alkohol an Lager zu haben, damit man gar nicht erst auf die Idee kommt, sich ein Glas einzuschenken. Das funktioniere aktuell gut, sagt Erwin Frei. Er habe zuletzt an Silvester etwas Rotwein getrunken, zu einem guten Essen möchte er es nicht missen. Momentan gehe es ihm gut, er sei körperlich wieder viel fitter, fahre Ski und Velo. «Das fühlt sich gut an.»

Doch Erwin Frei ist sich bewusst, dass seine Situation fragil und seine Sucht nicht überwunden ist. Seine Frau wohnt inzwischen an einem anderen Ort, mit seinen Kindern hat er losen Kontakt. Er sagt:

«Der Alkohol lähmt einen, körperlich und psychisch.»

Doch er könnte momentan wohl trotzdem nicht ganz darauf verzichten. Einen Neujahrsvorsatz hat er deshalb nicht gefasst. «Ich nehme es, wie es kommt, möchte jedoch gesund bleiben. Deshalb will ich mich vorerst an den Dry January halten und in diesem Monat auf Alkohol verzichten», sagt er.

*Name geändert

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