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Luzern

Ehemalige Luzerner Regierungsrätin Yvonne Schärli zum Internationalen Frauentag: «Das Ziel ist noch nicht erreicht»

Im Alltag hapert es noch immer in vielen Bereichen mit der Gleichstellung von Mann und Frau. Yvonne Schärli-Gerig, Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und ehemalige Luzerner Regierungsrätin, zeigt auf, wo Handlungsbedarf besteht.
Die ehemalige Luzerner Regierungsrätin Yvonne Schärli ist Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen. (Bild: PD)
Unter dem Motto «Vorwärts gegen den Rückschritt: Wir kämpfen weiter!» fand letztes Jahr der Frauenstreik statt. (Bild: Dominik Wunderli (Luzern, 14. Juni 2021))

Yvonne Schärli

Yvonne Schärli

Den Frauentag gibt es seit 1911. Die Vereinten Nationen legten den Tag der Frauen 1975 auch auf den 8. März. Interessanterweise feierte die UNO ihn als «Tag der vereinten Nationen für die Rechte der Frau und den Weltfrieden». Was sich die Verantwortlichen damals mit der Verkoppelung von Frauenrechten und Weltfrieden gedacht haben mögen?

Diese Frage beschäftigt mich, während mitten in Europa Krieg herrscht. War damit gemeint, dass Frieden nur dann möglich ist, wenn Frauen die gleichen Rechte wie Männer haben? Und ich weite die Frauenperspektive aus auf Schwarze, People of Color und weisse Menschen, arme und reiche, lesbische, schwule, bisexuelle und transgender Menschen. Kurz: Frieden ist nur in einer Welt möglich, in der sich alle Menschen auf Augenhöhe begegnen.

Und persönlich schliesse ich in diesen Tagen des Krieges auch alle Nationen in diese Gedanken ein. Ich bin tief überzeugt: Nur wenn wir die Rechte und die Integrität aller Menschen und Nationen wahren, wird der weltumspannende Frieden möglich. Und mit dieser Verkoppelung von Frauenrechten und Frieden macht es in diesen traurigen Tagen dennoch Sinn, auch über den Weltfrauentag 2022 nachzudenken.

Im letzten Jahr feierten wir das 50-jährige Jubiläum zur Einführung des Frauenstimmrechts. Das war ein Meilenstein für die Frauen, und in diesen 50 Jahren ist viel geschehen: 1988: Gleichstellung der Frauen im Eherecht, 1992: Vergewaltigung in der Ehe wird bestraft, 2005: Einführung eines Mutterschaftsurlaubs. Rechtlich gesehen konnten die Frauen aufholen, im Alltag aber hapert es mit der tatsächlichen Gleichstellung.

Das zeigte auch die Frauensession 2021, an der Frauen unterschiedlichster Art zwei Tage lang über die aktuelle Situation der Frauen in der Schweiz debattierten. Am Ende wurden 23 Petitionen ans Parlament überwiesen. Sie zeigen auf, wo nach wie vor Handlungsbedarf besteht. Zu den wichtigsten Forderungen gehören für mich:

Chancengleichheit im Erwerbsleben

Zur allgemeinen Vorstellung von Wirtschaft gehört in erster Linie die bezahlte Arbeit. Die Wirtschaft wird in drei Bereiche unterteilt: Landwirtschaft, Warenproduktion/Gewerbe und Dienstleistungen. Nicht zur Wirtschaft zählt die sogenannte Care- oder Sorge- und Versorgungsarbeit: Familienarbeit, Kinderbetreuung, Hausarbeit, Altersarbeit, Pflege von Angehörigen, soziale Freiwilligenarbeit …

Die Gesamtzahl an Stunden im Care-Bereich ist um 14 Prozent höher als diejenige für bezahlte Arbeit (eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann). Care-Arbeit ist unverzichtbar und systemrelevant für unsere Gesellschaft. Im Vergleich zum Care-Bereich ist die «Wirtschaft» der Rest aller geleisteten Arbeit. Der Grossteil der Care-Arbeit wird von Frauen geleistet, und sie ist entweder unbezahlt oder unterbezahlt. Hier gibt es Veränderungsbedarf.

Sensibilisierung für Gewalt an Frauen

In der Schweiz wird alle zwei Wochen eine Frau durch ihren Ehemann, Lebensgefährten, Ex-Partner, Bruder usw. getötet. Und jede Woche überlebt eine Frau einen versuchten Femizid. Das berichtete das eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann 2019.

Femizide sind keine Einzelfälle, sondern Resultat von struktureller Gewalt, deren Ausgangspunkt in den patriarchalen Machtverhältnissen unserer Gesellschaft liegt. Über Gewalt und Femizide wird hierzulande kaum berichtet, und es fehlt an Prävention und Aufklärung. Wenn berichtet wird, dann mit Begriffen wie «Familiendrama», «Beziehungstragödie» und «Einzelfall». Der Begriff Femizid hat sich in der Schweiz noch immer nicht etabliert. Er wurde im Sommer 2020 vom Ständerat erneut abgelehnt.

Gleichstellung im Alter

Die Renten der Frauen sind im Durchschnitt 37 Prozent tiefer als die der Männer. In Zahlen heisst das: 100 Milliarden Franken gross ist die Einkommenslücke zwischen Frauen und Männern in der Schweiz (Bundesamt für Sozialversicherungen 2016). Das ergibt eine Differenz von fast 20'000 Franken pro Jahr und Rentnerin.

Die Gründe für diese massive Einkommenslücken sind die ungleiche Verteilung der unbezahlten Arbeit einerseits und die ungleiche Bezahlung von Erwerbsarbeit andererseits. Am Schluss widerspiegelt sich das in den tieferen Renten der Frauen. Hier besteht Veränderungsbedarf.

Der Kanton Luzern – aus der Zeit gefallen

Seit den Kantonsratswahlen 2019 belegen Frauen rund einen Drittel aller Plätze. Ein gutes Ergebnis, denn so hoch war der Frauenanteil im Kanton Luzern noch nie. Ein beachtliches Resultat zwar, aber damit ist das Ziel noch lange nicht erreicht. Ein Verhältnis 50 zu 50 gilt es nach wie vor anzustreben.

Schauen wir auf den Regierungsrat, ist der Kanton Luzern irgendwie aus der Zeit gefallen. Fünf männliche Regierungsräte haben wir vorzuweisen. Mit ihrer Kampagne «halbe-halbe» rief die eidgenössische Kommission für Frauenfragen bereits für die Wahlen 2019 alle Parteien auf, doch vermehrt Frauenkandidaturen aufzustellen.

Frauen übernehmen Führungsfunktionen, aber sie müssen gezielt angegangen werden. Frauen werden gewählt, aber sie müssen gute Listenplätze erhalten. Das setzt voraus, dass Männer nach 12 oder 16 Jahren Regierungstätigkeit in den wohlverdienten Hintergrund treten und Platz machen für neue Kräfte – vor allem für Frauen.

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