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Luzern

Die gehörlose Sozialpädagogin versteht Gehörlose bestens

Nadia Tschudin (40) ist seit Geburt gehörlos. Das hat man aber erst gemerkt, als sie drei Jahre alt war. Heute führt die Ehefrau eines ebenfalls gehörlosen Mannes und Mutter eines zweijährigen hörenden Sohnes in Sursee ein gewöhnliches Leben – jedenfalls fast.
Nadia Tschudin arbeitet als eine der wenigen Betroffenen für Betroffene. (Bild: Pius Amrein, Luzern, 21. Mai 2019)

Roger Rüegger

Sie sind Sozialpädagogin bei der Beratungsstelle für Schwerhörige und Gehörlose in der Zentralschweiz. Weil Sie gehörlos sind, wusste ich nicht, wie wir uns unterhalten werden.Nadia Tschudin: Es ist tatsächlich so, dass Hörende oft nicht wissen, wie sie Gehörlose oder Schwerhörige ansprechen sollen. Dabei ist es eigentlich wie bei Touristen oder Migranten: Einfach nachfragen. Meistens melden die Betroffenen selber, welche Sprache sie sprechen.Es ist unschwer zu erkennen, dass Sie in Basel aufgewachsen sind. Trotz Ihrer Hörbehinderung haben Sie sich den Dialekt angeeignet.Mit drei Jahren bekam ich ein Hörgerät. Von da an konnte ich meine Umwelt akustisch wahrnehmen und lernte sprechen.Hat man erst dann bemerkt, dass Sie gehörlos sind?Meine Eltern wunderten sich, dass ich mit drei noch nicht sprechen konnte. Interessanterweise habe ich trotz Hörbehinderung reagiert, wenn man mir rief oder mit mir sprach. Ich spürte, wenn jemand etwas von mir wollte.Erstaunlich, dass Sie so gut sprechen. Hebt das Hörgerät all Ihre Handicaps auf?Nein, das nicht. Aus medizinischer Sicht bin ich gehörlos. Ich besitze aber Hörreste am linken Ohr, weshalb ich mit dem Hörgerät Sprache und Töne hören kann. Es verstärkt aber alle Geräusche und Laute. Deshalb ist eine ruhige Umgebung für mich wichtig. Es sollten nicht mehrere Leute am Tisch reden, sonst bin ich überfordert.Muss Ihr Gesprächspartner also nicht extra laut reden?Viele glauben, sie müssten mich anschreien. Wichtig ist aber, mit schwerhörigen oder gehörlosen Personen normal, deutlich und nicht zu schnell zu sprechen. Zu den Kommunikationsregeln zählt auch, dass man Blickkontakt hält.Verstehen sich Gehörlose durch die Gebärdensprache auf der ganzen Welt? Es werden manchmal ja auch Konzerte übersetzt.Wohl etwas besser als Leute, die mündlich kommunizieren. Aber die Gebärdensprache ist individuell auf die Sprachregionen angepasst. Es gibt sogar Dialekte. Wie gesagt, ich spreche die deutschschweizerische Gebärdensprache.
Geben Sie ein Beispiel?Für das Wort Arzt legt man Zeige- und Mittelfinger einer Hand über die beiden Finger der anderen Hand und bildet ein Kreuz. Die Basler aber fahren mit dem Zeigefinger unter dem Hals von rechts nach links oder bilden mit zwei Fingern eine Schere um ein Handgelenk.Das ist komplizierter als erwartet. Kommen wir zu Ihrer Arbeit. Welche Klienten sind Ihr Zielpublikum?Bei der Beratungsstelle begleiten wir Schwerhörige und Gehörlose bei alltäglichen Tätigkeiten. Etwa bei Behördengängen oder Terminen beim Arbeitgeber. Damit schliessen wir Kommunikationslücken. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Erziehungsberatung. Ich begleite gehörlose Eltern, deren Kinder hören können.In welcher Form brauchen diese Leute Hilfe?Bei der Bewältigung des Alltags müssen viele Hürden überwunden werden. Am häufigsten ist, dass Eltern bei der Erziehung ihrer heranwachsenden Kinder an Grenzen stossen, die für sie nicht voraussehbar sind.Das ist ja nicht nur ein Problem der Gehörlosen!Nein, aber in der Kommunikation sind wir noch mehr benachteiligt. Wenn Kinder nicht mehr auf ihre gehörlosen Eltern reagieren, muss man dort ansetzen.Was raten Sie, wo kann man anknüpfen?Ich unterstütze sie, indem wir das Thema bei der Wurzel packen. Wir arbeiten an der Aussprache und stärken diese, damit eine Ansage der Eltern von den Kindern auch klar verstanden wird. Gehörlose Eltern sollten von der Geburt des Kindes an Hilfe suchen. Wenn ihre Muttersprache praktisch die Gebärdensprache ist, sollten sie mit ihren Kindern von Anfang an auch so kommunizieren. Kinder lernen diese schnell und Eltern können sich mitteilen, ohne dass es zu Missverständnissen kommt. Zudem haben sie stets die Aufmerksamkeit des Kindes, weil man immer Blickkontakt haben muss.Jetzt wo Sie es erwähnen: Wie lernen Kinder von Gehörlosen eigentlich richtig sprechen?Hörende Kinder, die bei gehörlosen Eltern aufwachsen und nur in der Gebärdensprache erzogen werden, lernen ganz natürlich im Alltag sprechen: bei Grosseltern, auf dem Spielplatz, in der Spielgruppe und später im Kindergarten. Wenn dort oder in der Schule Sprachfehler auftreten, wird eine Logopädie empfohlen.Um Ihren heutigen Beruf ausüben zu dürfen, mussten Sie kämpfen. Als Gehörlose war es für Sie nicht leicht, Sozialpädagogin zu werden. Wie haben Sie es geschafft?Auf indirektem Weg. Ich absolvierte nach der Schule eine Lehre als Topfpflanzen- und Schnittblumen-Gärtnerin in einem Lehrbetrieb in Basel. Der Beruf gefiel mir zwar, aber ich wollte mit Menschen arbeiten. Ich war gerne mit Leuten zusammen. Nach der Lehre besuchte ich ein Jahr die Bäuerinnen- und Hauswirtschaftsschule, ehe ich berufsbegleitend an der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik in Luzern die Ausbildung als Sozialpädagogin absolvierte.Studierten Sie im Unterricht zusammen mit Hörenden?Ja, wir waren fünf Studenten mit einer Hörbehinderung unter anderen Studenten. Weil im Unterricht eine Dolmetscherin für Hörbehinderte anwesend sein musste, war es für uns Hörbehinderte notwendig, einen Antrag bei der IV zu stellen.Das Handicap hatten Sie also in doppelter Ausführung?Ja, deshalb können wir uns auch nicht ohne weiteres bei einer Universität oder Fachhochschule einschreiben. Es müssen Dolmetscher involviert sein und dafür müssen Anträge gestellt werden. Das ist fast überall im Alltag so. Wir müssen stets kämpfen und uns rechtfertigen.Gibt es auch Ausnahmen?Für Gottesdienste muss die Kirche gratis Dolmetscher zur Verfügung stellen. Wir müssen es aber im Vorfeld anmelden. Die Kirche ist für alle da. Die Menschen sollten bei uns aber auch freien Zugang zur Bildung haben.

Hinweis: Ein Gebärdensprache-Lexikon gibt's unter: signsuisse.sgb-fss.ch

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