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«Das Hörgerät ist keine Brille, die man anzieht und wieder scharf sieht»

Céline Dori ist seit kurzem Präsidentin der Beratung für Schwerhörige und Gehörlose Zentralschweiz mit Sitz in Luzern. Die 34-Jährige spricht über ihre Pläne, das anstehende 50-Jahr-Jubiläum – und ihre eigene Schwerhörigkeit.
Céline Dori, Präsidentin des Trägervereins Integration Schwerhörige und Gehörlose. Bilder: Corinne Glanzmann (Luzern, 22. Juni 2018)
Céline Dori hat sich mit Ihrer Behinderung jahrelang «durchgeschmuggelt».

Urs-Ueli Schorno

Urs-Ueli Schorno

Céline Dori, mit welchen Anliegen kommen Menschen zu ihnen?Von einer typischen Klientel kann man nicht sprechen. Meist werden aber Dienste der Sozialarbeit in Anspruch genommen: Arbeit, Finanzen und Versicherungen – gerade letztere sind ein komplexes Thema. Zurzeit stehen wir mit 150 Klienten in intensivem Kontakt. Dann gibt es viele punktuelle und befristete Anfragen.Wie viele Menschen sind eigentlich von einer Hörbehinderung oder Gehörlosigkeit betroffen?Es gibt dazu nur Schätzungen. Im Kanton Luzern geht man von 600 Gehörlosen aus, in der Zentralschweiz etwa 800. Bei der Schwerhörigkeit ist es sehr schwierig: Man schätzt, das jede zehnte Person in der Schweiz betroffen ist. Man kann sich aber mit gewissen Hörproblemen, wie in meinem Fall, auch noch zehn Jahre lang «durchschmuggeln».

«Ich fragte mich oft, weshalb ich so erschöpft bin und mich Gespräche rasch ermüden.»

Wie war das bei Ihnen, wann haben Sie sich dazu durchgerungen, ihr Gehör untersuchen zu lassen?Vor rund sechs Jahren. Ausschlaggebend war zunächst, dass dieses «Durchschmuggeln» viel Konzentration erfordert. Man muss ständig Lücken füllen, indem man durch Beobachtungen gewisse Dinge, die man nicht versteht, erahnt. Ich fragte mich oft, weshalb ich so erschöpft bin und mich Gespräche rasch ermüden. Ich bin eine lebhafte Person, die gerne unter Leuten ist. Das andere ist sehr typisch: Nämlich, dass mein Mann fragte, ob ich realisiere, dass ich falsche Antworten auf Fragen gebe – oder gar nicht reagiere. Ich höre oft, dass Leute rundherum die betroffene Person darauf aufmerksam machen. Viele wissen also gar nicht, dass sie Hörprobleme haben?Bei Schwerhörigkeit ist es für die Betroffenen selbst sehr schwierig: Die Behinderung ist unsichtbar. Beim kleinen Finger, der weh tut, kann man das feststellen. Das Gehör aber ist diffus. Wir haben keinen Vergleich. Ich weiss nicht, wie es sich anfühlt, richtig zu hören. Nach der Diagnose haben Sie ein Hörgerät erhalten. Was hatte dieses für einen Effekt?Das ist keine einfache Frage. Zum Einen gab es schon gewisse Aha-Effekte: Mir wurde bewusst, welche Töne ich noch nie gehört hatte, zum Beispiel das Zirpen der Grillen. Aber: Das Hörgerät verstärkt in erster Linie, es ist keine Brille, die man anzieht und wieder scharf sieht. Den Vergleich mit der Brille wollte ich gerade ziehen...Das tun viele. Das Hörgerät ist aber ein Hilfsmittel. Es erhöht das Sprachverständnis, verstärkt aber oft auch alle anderen Geräusche. Das bedeutet für das Gehirn viel Arbeit. Zum Beispiel weiss es zu Beginn nicht, dass eine sich immer wieder öffnende und schliessende Tür im Büro keine relevante Information ist. Diese Filterung kann das Hörgerät nicht vornehmen. In bilateralen Gesprächen wie bei unserem Interview funktioniert es aber sehr gut. Und wo zeigen sich die Grenzen der Technik?Zum Beispiel im Restaurant. Dort führen Leute Gespräche, die Kaffeemaschine läuft und wahrscheinlich auch noch das Radio. Dort ist es leider so, dass trotz Hörgerät für die meisten Hörbehinderten nur ein Brei an Lärm auf uns niederprasselt. Hier zeigt sich auch, dass Schwerhörigkeit oder Gehörlosigkeit ein Problem in der Kommunikation ist: Ob ich das Zirpen der Grille nicht höre, ist das eine. Wenn ich aber mein Gegenüber nicht verstehe, dann kann ich auch nicht am Gespräch teilnehmen, mich nicht einbringen und gehöre schliesslich nicht dazu – da steckt das Wort «hören» ja schon drin: dazugehören. Wie wichtig ist hörbehindertengerechte Kommunikation in der Öffentlichkeit?Ein Beispiel: Wichtig ist etwa, das gewisse Zugdurchsagen wie Gleisänderungen auch visuell sichtbar gemacht werden. Das ist heute nicht immer der Fall. Grundsätzlich wünschen wir uns – und dafür setzen wird uns als Verein auch ein – Integration in Gesellschaft und Arbeit. Da geht es oft um Informationszugang: Im öffentlichen Verkehr. Oder beim Fernsehen. Die No-Billag-Abstimmung war für uns sehr wichtig. Der Schweizerische Gehörlosenbund hat sich dagegen stark gemacht.

«Die Gebärdensprache bleibt gerade für Gehörlose Identifikationsmerkmal und Muttersprache.»

Beim Fernsehen ist also wieder alles im Reinen?Da gibt es schon auch noch Potenzial. Es gibt ein Pilotprojekt, dass Videoabstimmungsbotschaften des Bundes nicht nur untertitelt, sondern auch in Gebärdensprache übersetzt werden. Die Gebärdensprache bleibt gerade für Gehörlose Identifikationsmerkmal und Muttersprache.Was wünscht man sich als hörbehinderte Person von einer Firma?Zwei Sachen: Wichtig ist, dass der Arbeitgeber weiss, wie er sein Verhalten anpassen muss, um Kommunikation mit der hörbehinderten Person zu ermöglichen. Da gibt es gute Tipps: Augenkontakt, normales Sprechtempo, keine verschachtelten Sätze, deutliches Sprechen – damit Lippenlesen möglich wird. Auch eine ruhige Umgebung hilft. Das andere ist: Ein Bewusstsein für Hörbehinderung schaffen, so dass gewisse Verhaltensweisen nicht falsch interpretiert werden. Zum Beispiel, dass wenn man nicht gleich eine Antwort auf eine Frage gibt, das nichts mit Arroganz zu tun hat. Oder wenn man mal nicht mitlacht, heisst das nicht, dass es uns nicht interessiert. Sie sind gerade erst als Präsidentin gestartet. Was sind ihre Visionen für das Amt: Was wollen sie erreichen?

Ich möchte mit dem Trägerverein die wichtige Arbeit der Beratungsstelle unterstützen und längerfristig der Hörbehinderung ein Gesicht geben. Aufklären und zeigen, was Hörbehinderung bedeutet – über verschiedenste Kommunikationswege und Kanäle. Auch ich habe mir damals nach der Diagnose 1000 Fragen gestellt. Da möchte ich anknüpfen. Bereits vor meiner Wahl zur Präsidentin habe ich mich zudem stark engagiert für die Ausstellung zum 50-Jahr-Jubiläum, «unerhört erleben.» Sie wird im nächsten Jahr in der Kornschütte stattfinden und soll für das Thema Hörbehinderung sensibilisieren. Das Projekt liegt mir sehr am Herzen.

Hinweis: Céline Dori (34) ist Präsidentin der Beratung für Schwerhörige und Gehörlose Zentralschweiz. Die ausgebildete Betriebswirtschafterin und Kommunikationsspezialistin ist selbst betroffen von einer Schwerhörigkeit. www.bfsug.ch/www.unerhoert-erleben.ch

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