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Uri

Abschiessen oder schützen? Der Wolf reisst immer wieder Schafe – und dürfte bald auch in der Zentralschweiz Rudel bilden

Am 27. September stimmt das Schweizer Stimmvolk über das revidierte Jagdgesetz ab. Soll der Schutz des Wolfes gelockert werden?
Nutztierrisse in der Zentralschweiz im Zeitraum 2010–2019. (Quelle: Kora)
Ein Wolf streift am 16. Mai 2020 durch ein Wohnquartier in Giswil.  (Screenshot Leservideo)

Nino Gisler

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Nino Gisler

Die Vorlage spaltet die Gemüter und bietet viel Zündstoff für hitzige Diskussionen – die Revision des seit 1986 geltenden Jagdgesetzes. Umstritten ist die vorgesehene Änderung der Abschussbestimmungen bei Grossraubtieren. Damit gemeint ist der Wolf. Ein Argument der Befürworter ist, dass der Wolfbestand durch den gezielten und präventiven Abschuss besser reguliert werden kann. Gegner wiederum betiteln das revidierte Jagdgesetz als missraten, da wildlebende Tiere – nicht nur der Wolf – noch stärker in Bedrängnis geraten. Das Parlament habe es verpasst, gefährdete Tierarten besser zu schützen.

Haben die Menschen verlernt, mit dem Wolf zu leben? Das bis heute geltende Jagdgesetz wurde in einer Zeit erlassen, als es keine Wölfe in der Schweiz gab. Seit über 25 Jahren kommt das Raubtier wieder in der Schweiz vor, doch der Rückkehrer hat bis heute nur wenige Freunde.

Wolfspopulation hat sich seit 2012 verdoppelt

Im 19. Jahrhundert wurde der Wolf in der Schweiz ausgerottet. Erst 1995 kehrte er aus Italien zurück. Bis einige Jahre nach der Jahrtausendwende lag der Wolfbestand im einstelligen Bereich. Ab den 2010er-Jahren stieg die Anzahl Tiere rasant an. In den letzten fünf Jahren hat sich der Wolfbestand in der Schweiz verdoppelt, auf knapp 80 Tiere per Ende letzten Jahres. Aktuellere Zahlen liegen nicht vor. 2012 entstand das erste Wolfsrudel am Calanda in Graubünden, heute leben rund acht Rudel in der Schweiz.

In den Kantonen Uri, Ob- und Nidwalden hat sich bislang noch kein Wolfsrudel angesiedelt, sagt Ralph Manz von der Stiftung Kora. Diese ist zuständig für das Wolfmonitoring. Es handelte sich bei den Nachweisen bisher um transiente Wölfe – also Tiere auf Wanderschaft. «Dass sich Wolfsrudel in den nächsten Jahren in der Zentralschweiz ansiedeln werden, ist sicher – die Frage ist nur wann», sagt Manz und ergänzt:

«Der Lebensraum ist optimal für den Wolf.»

Seit 1999 werden für den Wolf systematisch Proben analysiert, um Nachweise zu bestätigen, heisst es auf der Website von Kora. Dazu verwendet werden Proben von Kot, Haaren, Speichel oder Urin. Da die DNA oft nicht mehr intakt ist, gelingt es nicht immer, den Wolf eindeutig zu bestimmen. So zum Beispiel im Melchtal vergangenen Juni: Acht Rinder sind im Gebiet Betenebnet offenbar in Panik geraten und in den Tod gestürzt. Sofort galt der Wolf als Übeltäter, wohl zu Unrecht. DNA-Proben liessen keine Rückschlüsse auf das Raubtier zu.

Mehr Risse im Kanton Uri, Schwankungen in Ob- und Nidwalden

Der Wolf macht sich vor allem Feinde, weil er Nutztiere reisst. Jährlich tötet er in der Schweiz 300 bis 500 Schafe. Die Situation in den Kantonen Uri, Ob- und Nidwalden ist komplett verschieden. Am meisten Risse hat der Kanton Uri zu beklagen, in Ob- und Nidwalden schwanken die Zahlen stark (siehe Grafik). Zum Vergleich: In der Schweiz gibt es rund 350'000 Schafe, davon werden gemäss Pro Natura knapp 200'000 auf einer Alp gesömmert. Jährlich sterben rund 4700 Schafe während der Sömmerung. Die Risse durch den Wolf machen also 6 bis 10 Prozent aus.

«Jedes verlorene Tier ist eines zu viel. Man darf das eine nicht gegen das andere ausspielen», findet alt Ständerat Isidor Baumann. Er präsidiert das Urner Komitee «Ja zum neuen Jagdgesetz», welches breit abgestützt ist mit Vertretern aus Politik, Jagd und Landwirtschaft. Baumann betrachtet die Entwicklung des Wolfbestandes als besorgniserregend:

«Es war logisch, dass der Wolfbestand schneller zunimmt als prognostiziert. Der Wolf steht zuoberst in der Nahrungskette und hat keine natürlichen Feinde.»

Das neue Jagdgesetz schaffe mehr Sicherheit für Tiere, Landschaften und Menschen. Es verstärke den Schutz der «noch intakten Kulturlandschaft» im Kanton Uri, ist Baumann überzeugt. Am 10. Februar 2019 hat das Urner Stimmvolk die kantonale Volksinitiative zur Regulierung von Grossraubtieren mit 70,2 Prozent Ja-Stimmen gutgeheissen. Der Satz «die Förderung des Grossraubtierbestandes ist verboten» fand Einzug in die Urner Kantonsverfassung. Damals sei vom Urner Stimmvolk ein klares Zeichen zum Umgang mit Wild- und Grossraubtieren gesetzt worden, findet Baumann.

Im Kanton Uri hat sich aber auch Widerstand gegen das revidierte Jagdgesetz gebildet. Lokale und kantonale Politiker haben sich mit Vertretern der Natur- und Tierschutzverbände zum Urner Komitee «Jagdgesetz Nein» zusammengeschlossen. Fabian Haas, Geschäftsführer WWF Uri, erläutert, dass vor allem die massive Schwächung des Artenschutzes zu Widerstand geführt habe: «Es wäre sehr schade, wenn die Konflikte mit dem Wolf dazu führen würden, dass der Schutz vieler anderer Arten wie Biber, Luchs, Graureiher oder Gänsesäger gelockert wird.» Zudem findet er den Feldzug gegen den Wolf im Hinblick auf die Abstimmung unverhältnismässig: «Die Alpen bieten genug geeigneten Lebensraum und eine hohe Dichte an Beutetieren für den Wolf.» Haas stellt zudem fest:

«Im Verhältnis zum Anstieg des Wolfbestandes hat die Anzahl Nutztierrisse abgenommen.»

Haas rechnet vor: Während ein einzelner Wolf vor zehn Jahren im Schnitt noch 15 Risse pro Jahr verursachte, sind es heute zirka fünf. Die Mehrheit der Schafe sterbe wegen Krankheiten, Abstürzen, Blitz- oder Steinschlägen. Die tiefere Zahl der Risse pro Wolf lasse sich mit dem Herdenschutz begründen, sagt der Tierschützer und nimmt die Schafhalter in die Pflicht: Gerade im Kanton Uri gebe es nach wie vor ungeschützte Herden im Wolfgebiet. Nur etwa ein Dutzend Schafherden sei geschützt.

Gegen das revidierte Jagdgesetz stellt sich auch die SP Obwalden. Präsidentin Suzanne Kristiansen meint dazu: «Der Wolf gehört in unseren Lebensraum und wir brauchen gesetzliche Grundlagen, die eine Koexistenz von Wolf und Mensch mit seinen Nutztieren regeln.» Das revidierte Jagdgesetz löse diese Herausforderung nicht befriedigend. In der öffentlichen Debatte über das Gesetz stehe der Wolf im Fokus, die Nachteile des Gesetzes, wie zum Beispiel der mangelnde Artenschutz bedrohter Wildtiere, werden gänzlich übersehen, so die Präsidentin der SP Obwalden. Kristiansen hält fest:

«Die SP Obwalden lehnt das Gesetz nicht primär wegen der ‹Wolfsfrage› ab, sondern vielmehr aufgrund der anderen Schwächen, die diese Revision mit sich bringt.»

Risse durch den Wolf hatte der Kanton Obwalden 2008 erstmals seit der Rückkehr des Raubtiers zu vermelden. Im laufenden Jahr wurden bisher sechs Risse verzeichnet. Ausserdem sorgte ein Wolf, der im vergangenen Mai durch ein Giswiler Wohnquartier marschiert ist, für Aufsehen.

«Wir gehen davon aus, dass es sich beim verursachenden Tier um den Rüden M131 italienischer Abstammung handelt», sagt Cyrill Kesseli, Jagdverwalter das Kantons Obwalden. Seither halte sich das Tier im westlichen Sarneraatal auf.

Auch der Kanton Nidwalden hatte in den vergangenen Jahren immer wieder Wolfsereignisse zu vermelden. Höhepunkt war 2018 mit 15 Rissen, seither wurden keine Schäden mehr gemeldet. Beat Würsch aus Emmetten bewirtschaftet zusammen mit seinen Eltern einen Alpbetrieb, bewacht werden die Schafe durch drei Schutzhunde. «So kann der Schutz vor Grossraubtieren wie dem Wolf einigermassen gewährleistet werden», findet Würsch. Die Erfahrung mit den Schutzhunden sei durchwegs positiv, obwohl «es auch zu Bagatellfällen gekommen ist mit Touristen während des Coronasommers». Der Urner Schafhalter Max Müller verzichtet auf Schutzhunde, geschützt werden seine Schafe durch Lamas (die nicht als offizielle Schutzmassnahme gelten) und einen elektrischen Zaun. Er sagt:

«Dass wir bis jetzt vom Wolf verschont blieben, war reines Glück.»

Mehr könne er für seine Tiere auch nicht tun, sagt Müller. Seine Alp sei als nicht schützbar eingestuft worden. Hofft der Schafhalter also darauf, dass der Wolf künftig präventiv geschossen wird – noch bevor er auf der Alp ist? «Ziel ist nicht, Wölfe einfach abzuschiessen.» Doch Problemtiere könnten früher abgeschossen werden, bevor sie grosse Schäden anrichten.

Hinweis: Weitere Informationen zum Wolfmonitoring finden Sie unter www.kora.ch.

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