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«Velosport total» – wie Jumbo-Visma die Vuelta a España dominiert

Jumbo-Visma setzt neue Massstäbe im Sport der zwei Räder und liegt mit gleich drei Mann bei der Vuelta vorn.
Omnipräsent im Fahrerfeld: Jumbo-Visma startete mit Jonas Vingegaard (rechts) und Primoz Roglic (Mitte) als Captains in die Vuelta. Aktuell führt aber ihr überraschender Teamkollege Sepp Kuss das Zwischenklassement an.
Bild: Bild: Manuel Bruque / EPA

Die Leader können auch helfen. Auf der 18. Etappe der Vuelta a España spannte sich plötzlich Jonas Vingegaard vor das reduzierte Feld der Favoriten. Er setzte einer Attacke von Mikel Landa hinterher. Und er beschleunigte auf eine Art, die seinen Teamkollegen Sepp Kuss nicht in Schwierigkeiten brachte. Das war eine neue Spielart von Jumbo-Visma.

Denn in den vorherigen Tagen waren die beiden nominellen Captains Vingegaard und Primoz Roglic immer wieder ausgerissen und hatten den Rückstand auf Kuss reduziert. Jetzt aber geleitete Vingegaard brav seinen Edelhelfer hoch zum Cruz de Linares. Und auch Roglic hielt die Beine ruhig. Nur Kuss selbst musste mal kurz ran, um eine Attacke des Gesamt-Vierten Juan Ayuso zu neutralisieren. Er machte dies souverän. Die drei Jumbo-Athleten befinden sich weiter an der Spitze des Klassements. Sie stehen kurz vor dem totalen Triumph: Nicht nur die ersten drei Plätze bei der Vuelta gehören ihnen. Kommen sie gesund in Madrid an, hat ihr Rennstall in dieser Saison auch alle drei Grand Tours gewonnen. Das glückte noch keinem Rennstall zuvor.

«Sie sind jetzt die Benchmark, so wie wir das vor ein paar Jahren waren», schätzte Geraint Thomas, Tour-de-France-Sieger mit Team Sky, die aktuelle Situation ein. Bei Jumbo-Visma wird der aktuelle Erfolg vor allem als Ergebnis eines permanenten Entwicklungsprozesses bewertet. Als «Velosport total» bezeichnet Teamchef Richard Plugge gern die Philosophie seines Rennstalls. Die Anlehnung an den «Voetbal total», mit dem die niederländische Fussballnationalmannschaft um Johan Cruyff in den 1970ern berühmt wurde, ist offensichtlich. Die Nachahmer im Velosport sind derzeit sogar noch erfolgreicher. «Ja, das Oranje-Team hat damals die WM nicht gewonnen, während wir unsere WM, die Tour de France, bereits gewinnen konnten», sagte Plugge zu dieser Zeitung am Rande der Vuelta.

Bei der Spanienrundfahrt zele­briert Jumbo-Visma den totalen Velosport regelrecht. Bestand der Sinn vom «totalen Fussball» darin, permanente Positionswechsel zu vollziehen und so eine den Gegner verwirrende Dynamik zu erzeugen, so wechselt auch Jumbo-Visma munter die Führungsfiguren durch. «Ursprünglich sind wir mit dem Plan zur Vuelta gekommen, dass Primoz und Jonas um den Sieg fahren. Jetzt ist es mit mir ein bisschen komplizierter geworden», sagte lachend Sepp Kuss. Der Amerikaner ist seit der achten Etappe Leader dieser Rundfahrt. Er kam dank eines Ausreissversuchs in diese Position. «Eigentlich wollten wir die Gegner in Zugzwang bringen», erläuterte er seinen Ausflug. Mehr und mehr setzte er aber seine Captains unter Druck. Und als er auch noch im Zeitfahren der zehnten Etappe die Führung verteidigte, gab sein Rennstall die Drei-Captain-Strategie heraus. «Jeder von uns kann um den Sieg fahren, wir sollen nur nicht direkt gegeneinander fahren», erläuterte Vingegaard die Abmachung.

Vingegaards eigene Interpretation

Der Däne interpretierte das in den vergangenen Tagen auf ganz eigene Weise. Munter schnellte er am Tourmalet davon, nahm keine Rücksicht auf Kuss, der 30 Sekunden verlor, auch keine auf Roglic, der weitere drei Sekunden einbüsste. Auch auf der steilen Rampe nach Bejes war er als Solist erfolgreich. Er rückte noch näher an Kuss heran und verdrängte Roglic auf Rang drei im Klassement. Roglic wiederum hielt sich am Angliru schadlos und gewann vor Vingegaard und Kuss. Und alle drei betonten hinterher, dass das so in Ordnung sei. «Die Beine sollen entscheiden, und der Beste soll diese Vuelta gewinnen», sagten sie mehrfach wie aus einem Munde. Gegeneinander seien sie ja auch nicht gefahren, lautet ihre Argumentation. Nur wenn einer attackiert und der andere versucht, die Lücke zu schliessen und dabei Fahrer anderer Equipes mitnimmt, wäre der heikle Vertrag gebrochen. Gestern interpretierten sie das freie Spiel defensiver. Kuss bedankte sich daher auch ganz ehrlich bei seinen Co-Captains für die Hilfe.

Fahrer anderer Teams haben längst resigniert. «Die ziehen das durch wie auf der Playstation», sagte halb bewundernd, halb erschrocken Remco Evenepoel über Jumbo-Visma. Der Titelverteidiger verlor am Tourmalet 27 Minuten und verlegt sich seitdem auf die Jagd nach Bergpunkten.

Darin ist er mächtig erfolgreich. Auf der 18. Etappe sammelte er gestern als Ausreisser alle 38 Bergpunkte und holte auch noch den Etappensieg, seinen dritten bei dieser Vuelta. Zumindest darin ist er besser als die famosen drei von Jumbo-Visma. Vingegaard und Roglic holten je zwei Tagessiege, Kuss einen. Die Entscheidung fällt morgen beim Ritt durch die Sierra de Guadarrama.

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