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Erleuchtung im falschen Bus

Man nennt sie Schlüsselerlebnisse – diese prägenden Momente im Leben, die alles verändern können.

1994 – ich war damals gerade mal 22 Jahre alt und reiste ein ganzes Jahr lang mit meinem Kumpel durch Südamerika. Englisch war zu jener Zeit und in diesen Ländern noch nicht sehr verbreiten, so entschieden wir uns, die ersten drei Monate irgendwo auf dem Kontinent eine Spanisch-Schule zu besuchen. Wir wählten Quito, die Hauptstadt von Ecuador.

Ich wohnte im Norden der Stadt, bei einer sehr zuvorkommenden Gastfamilie. Oberer Mittelstand, würde ich sagen, denn der Gastvater arbeitete im Finanzministerium und wurde jeden Morgen von einer staatlichen Limousine abgeholt. Die Mutter war Hausfrau, und obwohl ihre Kinder schon alle weit über 20 waren, hatte sie Unterstützung von einer Köchin, einer Putzfrau und einer Wäscherin. Der Sohn, welcher in der Stadt als Anwalt arbeitete, räumte für mich sein Zimmer und schlief in den drei Monaten am Boden neben seinen Eltern. Die Tochter, Chefsekretärin an der ecuadorianischen Börse, lebte im selben einstöckigen Haus in einem einzigen Zimmer zusammen mit ihrem Mann und den drei Kindern. Wir hatten meistens Strom, genug Wasser, eine Heizung und ungefähr sieben Fernsehapparate. Oberer ecuadorianischer Mittelstand halt.

Eines Tages wollte ich die Basilika besichtigen, bestieg einen dieser ausrangierten amerikanischen Schulbusse und erwischte prompt eine falsche Buslinie – falls es denn wirklich Buslinien gab. Statt zur Sehenswürdigkeit fuhr der klapprige Bus immer südlicher und immer tiefer in die Slums hinein. Es regnete Katzen und Hunde, das Dach war undicht, mir war kalt, ich hatte Hunger, war müde und genervt ab diesem ständigen Halten, Warten, ruppigen Anfahren, Bremsen, Hupen, Quietschen und dem übervollen miefigen Bus.

Haltestellen gab es in dieser Gegend keine. Wenn der Chauffeur dachte, «die da am Strassenrad können das Fahrgeld eh nicht bezahlen», wurde nicht angehalten, und im Vorbeifahren sah man im Augenwinkel die Fäuste und Stinkefinger der Wartenden.

Da war auf einmal diese Frau, klatschnass bis auf die Knochen, zwei schreiende Kinder im Schlepptau, das Dritte im Tragtuch, knöcheltief am Strassenrand im Matsch stehend. Der Bus hielt an. Es dauerte eine Weile, bis die gute Frau die beiden Jungs und das halbe Dutzend Tragtaschen im Bus hatte. Sichtlich fröstelnd klaubte sie ein paar Münzen aus der Rocktasche. Unübersehbar hatte sie Mühe, den umgerechnet etwa 0,01 Rappen teuren Fahrpreis zu bezahlen.  

Ich sass eingepfercht in der hintersten Reihe. Mein Gesichtsausdruck widerspiegelte meine Stimmung. Ich war wütend auf mich und die Welt. Seit Stunden nun sass ich hungrig, durstig, müde und unterkühlt in diesem verdammten Scheissbus im Nirgendwo.

Entnervt beobachtete ich die Frau, wie sie sich gemächlich und in einer unbeschreibbaren Geduld durch den übervollen Mittelgang an den stehenden Fahrgästen vorbei kämpfte. Vor und zurück, zuerst das erste Kind, dann das zweite. Danach die erste Tasche und so weiter. Und plötzlich stand sie unmittelbar vor mir. Diese grossartige Kämpferin. Für ein paar Sekunden trafen sich unsere Blicke.

Sie lächelte.

Ich nicht.

Paralysiert vor Ehrfurcht lief es mir eiskalt den Rücken runter. «Hier läuft irgendetwas schief, hier stimmt etwas nicht!» Der gleiche Moment, derselbe Quadratmeter: Sie, die scheinbar nichts hat, ist zufrieden. Ich, der alles hat, nicht. Sie ist schlichtweg nur froh, dass es weitergeht. Und ich? Ich hätte den alten Bus wohl auf der Stelle kaufen können, ihn auf direkten Weg Richtung Norden zu meiner Familie fahren lassen, dort heiss duschen, warm essen und dann in ein bequemes Bett steigen können. Und wenn mir das alles immer noch zu unkomfortabel gewesen wäre, hätte ich mit dem Gegenwert eines ecuadorianischen Jahreslohnes ins helvetische Schlaraffenland zurückfliegen können.

Seit 30 Jahren nun ist dieser magische Moment und die Erinnerung an diese würdevolle Frau, die mich lehrte, im Moment zu leben, mein natürliches Antidepressiva.

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