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Auge um Auge

So brutal und rachsüchtig ist diese Regel aus dem Alten Testament nicht. Sie will sagen: Wenn dir einer ein Auge aussticht, darfst du ihn nicht umbringen oder ihm grösseren Schaden zufügen – du darfst ihm nur mit gleicher Münze zurückzahlen. Dann seid ihr quitt, und der Konflikt ist erledigt.

Das war eine Einschränkung der üblichen Blutrache (Vendetta), wo der Sohn des Opfers sich das Recht herausnahm, den Täter oder seinen Sohn zu töten und der Kampf dann immer weiterging, über unzählige Generationen. Ausgerechnet im katholischen Süditalien ist das bis heute noch Realität. Der «Ehrenmord» gilt als Ehrentat.

«Auge um Auge» begrenzt die Vergeltung: Sie soll genau dem Schaden entsprechen, aber nicht weitergehen. «Zahn um Zahn, Bruch um Bruch, Hand um Hand, Leben um Leben», wird es noch verdeutlicht. Wobei das schon damals als Anhaltspunkt und Kriterium für die Rechtsprechung angewendet wurde. Hatte also jemand einem ein Auge ausgestochen, wurde er dazu verurteilt, die Heilungskosten, eine Arbeitsausfallentschädigung und ein Schmerzensgeld zu entrichten.

«Auge um Auge» hat also nicht dem Einzelnen die Erlaubnis erteilt, sich selber zu rächen, sondern dem Gericht geholfen, das Mass der Bestrafung festzulegen. Das Volk Israel war schon vor 3000 Jahren so weit, wie wir es heute allmählich auch geworden sind, über mühselige Prozesse der Verstaatlichung der Rechtsprechung und über Friedenserziehung, die bewusst macht, dass persönliche Vergeltung den Kreislauf der Gewalt nicht abbricht, sondern endlos weiterlaufen lässt.

Vor 3000 Jahren stand dies dem Volk Gottes vor Augen und wurde als Praxis eingeführt. Und heute? Die 1200 Opfer des Hamas-Attentats sind (bis jetzt) mit über 31 000 Opfer im palästinensischen Volk beantwortet worden, und der israelische Verteidigungsminister bekannte, er würde auf Gaza gerne eine Atombombe abwerfen.

Die Regierung Israels ist weiter entfernt denn je von ihrer «Grundverfassung», die im Alten Testament zu lesen ist. Das festzustellen, ist nicht antisemitisch. Ich halte die Berufung des Volkes Israel und die Politik Netanyahus auseinander. Wer die Regierung kritisiert, ist trotzdem ein Freund des Volkes Israel. (Wahrscheinlich kritisiert er sie ja gerade deshalb.) Wer den Papst kritisiert, ist trotzdem katholisch. Wer die SVP kritisiert, ist trotzdem Schweizer.

Und wir selber bleiben ja auch weit hinter unseren Idealen zurück, als Einzelne wie als Volk. Wer tut es nicht, welches Volk und welcher Mensch? Gerade weil wir uns als schwach und fehlerhaft erfahren, sollten wir Verständnis aufbringen für andere. Ich bin nicht besser als jemand, der straffällig geworden ist; ich hatte es nur besser. Darum wurde ich vom Abgleiten auf falsche Wege bewahrt.

«Auge um Auge» versucht, die instinktive Aggressivität und spontanes Zurückschlagen einzudämmen, weil sonst Gewalt und Unheil ausufern. Das in Realpolitik umzusetzen, übersteigt sicher die Natur des Menschen. Doch wenigstens in den Zielen und Wünschen, Worten und Reaktionen sollte das doch als Vision und Absicht aufscheinen!

In einer italienischen Kirche habe ich mal gelesen: «Jemandem verzeihen heisst einen Gefangenen befreien – und dann merken, dass du selber der Gefangene warst.» Nämlich der Gefangene deiner Verletztheit, deiner Frustrationen und Rachegelüste, statt die Freiheit des Neuanfangs und der Hoffnung, des guten Willens und der Versöhnung zu suchen, zumindest die Ausrichtung des Denkens und der Gesinnung zu ändern. Natürlich ist das naiv; ich glaube eben, dass, in Familie und Nachbarschaft wie in der Politik und im Krieg, Kindlichkeit und Unschuld, Vertrauen und Vorleistungen entwaffnender sind als «Wie du mir, so ich dir». Sagen wir: Ich möchte das glauben.

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