notifications
Politiker und Äusserlichkeiten

Wird Europa von kleinen Männern regiert?

In den sozialen Medien ist eine Debatte über kleine Männer entbrannt. Denn Putin, Selenski, Scholz und Macron sind kaum grösser als 1.70 Meter. Über eine Debatte, die das «starke» Geschlecht auf seine Kürze reduziert.

Im April bebilderte der britische 'Express' eine niederländische Studie, die den Einfluss der Körpergrösse in den amerikanischen Wahlen untersucht hatte, mit diesem Foto.
Bild: Getty/express.co.uk

Versuchen Sie doch mal, folgende Personen nach ihrer Körpergrösse zu ordnen: Marco Odermatt, Manuel Akanji, Xherdan Shaqiri, Hugh Grant, Brad Pitt. Weshalb die Übung? Weil in den sozialen Medien die Grösse von Männern gerade gross im Gespräch ist. Seit Montag sei die Macht in Europa in den Händen von 1,70-Meter-Männern ‒ diese Behauptung wird rege geteilt. Am Anfang steht mutmasslich ein Tweet von Meta-Autor Tom Gara.

Es ist das zweite, verpolitisierte Aufflackern einer latenten Debatte. Bereits diesen Frühling wurde die Körpergrösse der politischen Spitzen in Europa zum Thema. Im März machte der Hashtag «ShortKingSpring» die Runde ‒ zu Deutsch etwa Kleinkönigfrühling. Allerdings wurde der Begriff auf Twitter und Tiktok vor allem dazu genutzt, seine Liebe zu 173 Zentimeter grossen respektive kleineren Männern kundzutun.

Einige Influencerinnen und Influencer haben 2022 zum Jahr des «short king» erklärt und Stars zelebriert, die diesen Trend verkörpern. Etwa Nicole Kidman respektive ihren Ehemann Keith Urban, den sie um zwei Zentimeter überragt. Die Frage indes ist aufgeworfen: Die Männer auf ihre Grösse reduzieren, darf man das?

Mehr Spass vertragen

Nach wie vor sind es vor allem Frauen gewohnt, dass ihr Aussehen und Auftritt öffentlich diskutiert wird. Aber sie sind immer weniger bereit, das zu tolerieren. Aus der Schweiz ist als fragwürdiges Glanzlicht der letzten Jahre in Erinnerung, wie anlässlich der Gotthard-Eröffnung 2016 landauf, landab über Doris Leuthards Mantel diskutiert wurde. Oder der Aufschrei über Angela Merkels Ausschnitt anlässlich einer Gala 2008. Unvergessen auch die Kommentare bei Glanz und Gloria des Kommunikationsexperten und Ex-Moderators Patrick Rohr sowie des Stil-Experten Clifford Lilley über die neugewählten Bundesrätinnen Viola Amherd und Karin Keller-Suter im Dezember 2018: Amherd wirke «mütterlich, rund und weich», Keller-Suter könne hingegen ein bisschen «mehr Spass» vertragen.

Von solchen Kommentaren bleiben Männer normalerweise verschont. Auch dass sie an Schönheitsidealen scheitern, wird öffentlich kaum diskutiert. Dabei leiden einige durchaus an ihrer Körpergrösse. Noch immer ist es so, dass viele Frauen lieber einen Mann an ihrer Seite wollen, der sie überragt. Ist es umgekehrt, gilt das als Liebesbeweis. Selbst da, wo geschummelt wird: Nicolas Sarkozy darf Absätze tragen neben Carla Bruni in Ballerinas.

Der umjubelte Konformitätsbruch ist die eine Lesart. Auf Twitter setzt sich die andere durch. Beispiel Sarkozy, der 1,66 grosse Ex-Präsident scheint im Reinen mit seiner Körpergrösse. Er hat viel Macht auf sich vereint. Kleiner Mann, grosser Geltungsdrang? Der Psychoanalytiker Alfred Adler hat diese Strategie einst als Reaktion auf eine ‒ von ihm wenig geschickt bezeichnete ‒ «Organminderwertigkeit» beschrieben und damit gemeint: Menschen, denen etwas fehlt, müssen, wenn sie begabt sind, mit etwas anderem Eindruck machen. Kleine Männer kompensieren das Gefühl der Unterlegenheit, indem sie mit Talent auffallen.

Konstruiert

Die These Adlers scheint sich zu bestätigen, wenn man kurz schaut, wer sonst noch zum 1,70-Meter-Boys-Club gehört: Mark Zuckerberg, Jeff Bezos, Tom Cruise. Allerdings ist Barack Obama 1,87, Justin Trudeau 1,88, ebenso Elon Musk. Und Mark Rutte, der Premierminister der Niederlande, misst 1,93 Meter. Das sieht also doch eher nach Zufall aus.

Überhaupt ist unklar, was überhaupt gross ist und was klein. In der Schweiz sind Männer durchschnittlich 1,78 cm gross, in Schweden 1,80, in Portugal 1,74. Global gesehen liegt die Durchschnittsgrösse von Männern bei 1,73. Wird Europa mit Putin und Selenski, mit Scholz und Macron also von kleinen Männern in Bann gehalten? Sagt das etwas aus über die Politik oder eher darüber, wie Twitter und Co. funktionieren?

Urteilen Sie selbst. Hier sei noch das Rätsel vom Anfang aufgelöst: Xerdan Shaqiri (170 cm), Hugh Grant (180 cm), Brad Pitt (180 cm), Marco Odermatt (183 cm), Manuel Akanji (188 cm).