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Deutschland

«Wie in irgendeinem diktatorischen Entwicklungsland»: Der Umgang mit dem Berliner Wahlchaos empört viele Deutsche

Die Unregelmässigkeiten, die es bei der letzten Bundestagswahl in der deutschen Hauptstadt gab, sind noch immer nicht behoben. Der Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP scheint es eher darum zu gehen, ihre eigenen Mandate abzusichern. 

Ein deutscher Wähler bei der Stimmabgabe. 
Bild: Eckehard Schulz / AGR

Lange Warteschlangen, vertauschte Stimmzettel und ein Abstimmungsprozess, der teilweise deutlich länger dauerte als vorgesehen - solche Szenen an Wahltagen dürften die meisten Deutschen bisher mit Afrika, Lateinamerika oder vielleicht noch einigen Bundesstaaten der USA verbunden haben. Dagegen erschien die Bundesrepublik immer wie eine wohlorganisierte Vorzeigedemokratie.

Vor etwa einem Jahr ist dieses Bild ins Wanken geraten: Als im September 2021 am selben Tag der Deutsche Bundestag, das Berliner Abgeordnetenhaus sowie die Parlamente der zwölf Berliner Stadtbezirke gewählt wurden, erwies sich der Verwaltungsapparat der deutschen Hauptstadt erkennbar als überfordert. Wie viele wahlwillige Berlinerinnen und Berliner ihre Stimme letztlich nicht abgeben konnten, ist unbekannt, doch dass die Ergebnisse bei einem ordnungsgemässen Ablauf zumindest in Nuancen anders ausgefallen wären, gilt als so gut wie sicher.

Die Zahl der Wahllokale, in denen erneut abgestimmt werden soll, sank im Verlauf der Verhandlungen immer weiter

Ob die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksparlamenten wiederholt werden müssen, will das Berliner Verfassungsgericht Mitte November entscheiden. Bei einer Anhörung letzte Woche deuteten die Richter allerdings an, dass es wohl auf eine komplette Wiederholung hinauslaufen wird. Alles in allem seien die Berliner Wahllokale mindestens 83 Stunden vorübergehend geschlossen gewesen; zudem sei nach der offiziellen Schliessung um 18 Uhr noch in der Hälfte aller Wahllokale abgestimmt worden. Letzteres gilt auch deswegen als problematisch, weil um 18 Uhr erste Prognosen veröffentlich wurden, die zumindest manche Wähler beeinflusst haben könnten.

Während im Fall der Berliner Regionalwahlen ein Gericht über eine mögliche Wiederholung entscheidet, tun dies im Fall der Bundestagswahl die Abgeordneten selbst. Der Interessenskonflikt ist dabei offensichtlich: Am Ende stimmen Parlamentarier darüber ab, ob sie ihren Posten behalten dürfen oder sich einer Neuwahl stellen müssen.

Diese Woche hat der Wahlausschuss des deutschen Parlaments vorgeschlagen, dass die Bundestagswahl in lediglich 300 der 2300 Berliner Wahllokale noch einmal stattfinden soll. Noch im Mai hatte der Bundeswahlleiter eine Wiederholung in 1200 Wahllokalen gefordert.

Zudem soll nach dem Willen der Ausschussmitglieder nur die sogenannte Zweitstimme erneut abgegeben werden. Bei einer Bundestagswahl haben die Wähler zwei Stimmen zu vergeben: Mit der Erststimme können sie einen Abgeordneten für ihren Wahlkreis bestimmen, mit der Zweitstimme entscheiden sie sich für die Liste einer Partei. Dass bei einer Wahlwiederholung nur die Zweitstimme erneut vergeben werden soll, kommt vor allem den Grünen entgegen: Sie haben in Berlin drei Direktmandate errungen, eines davon mit einem knappen Vorsprung.

Grüne und Liberale sollen im Ausschuss eine weitreichendere Wahlwiederholung verhindert haben

Der Ablauf der Ausschuss-Verhandlungen, wie er von deutschen Medien kolportiert wird, deutet auf einen regelrechten Kuhhandel zwischen den drei Regierungsparteien Sozialdemokraten, Grünen und FDP hin. Am Ende, so berichtet die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», hätten sich die Grünen und die FDP durchgesetzt, die im Fall einer weitreichenderen Wahlwiederholung den Verlust von Mandaten fürchten müssten.

Offenbar hatte die FDP zunächst gefordert, eine Stimmabgabe bis 19 Uhr als unproblematisch zu betrachten, während ihre Koalitionspartner an einen Zeitraum bis 18.30 Uhr dachten. Schliesslich traf man sich in der Mitte und einigte sich darauf, dass Wahlzettel, die bis 18.45 Uhr eingeworfen wurden, als reguläre Stimmabgabe gelten sollen. Auf diese willkürlich anmutende Weise drückten die Abgeordneten die Zahl der Wahllokale, in denen neu abgestimmt werden soll, von 400 auf 300.

Nun ist die Empörung gross. Von Zuständen «wie in irgendeinem diktatorischen sogenannten Entwicklungsland» sprach Peter Müller, ein Richter am deutschen Verfassungsgericht. Müller ist ein früherer CDU-Politiker, doch auch unabhängige Kommentatoren fanden, hier werde Hand an die Demokratie gelegt. Im Verlauf des Oktobers muss nun der Bundestag darüber entscheiden, ob er den Empfehlungen des Wahlausschusses folgt. Mit ihrer Mehrheit könnte die Koalition einen Entscheid nach ihrem Gusto durchdrücken. Besser beraten wären die Regierungsparteien allerdings, würden sie sich noch einmal besinnen.