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Deutschland

Wie die Deutschen lernten, die Panzer zu lieben: Der Ukraine-Krieg hat das Land verändert, doch die alte Unduldsamkeit in den Debatten ist geblieben

Ein Jahr nach dem russischen Überfall fällt es Deutschland noch immer schwer, sich an seine neue Rolle zu gewöhnen. Manche haben Mühe damit, den Ernst der Lage zu akzeptieren. 
Für die meisten Deutschen ein neues Gesprächsthema: Ein Kampfpanzer des Typs Leopard 2, hier auf dem Bundeswehrstützpunkt Munster. 
Bild: Filip Singer / EPA

Berlin durchlebt gerade die letzten kalten Wintertage. Dass manche vor einem halben Jahr noch fürchteten, Deutschland könnte wegen der hohen Energiepreise vor Putin auf die Knie gehen, ist fast schon vergessen. Weder sind die Deutschen in ihren Wohnungen erfroren, noch sind sie in Massen auf die Strasse gegangen. Dabei hielten Beobachter im In- und Ausland die Bundesrepublik für das schwächste Glied im westlichen Bündnis: weil sie sich von russischem Öl und Gas abhängig gemacht hatte wie kein anderes grosses Land in Europa, aber auch, weil man den Deutschen keine allzu grosse Opferbereitschaft zutraute.

Im Sommer drosselte Russland die Gaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1. Er dusche nur noch fünf Minuten, sagte der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck und kaufte eilig teures Gas in Norwegen, Amerika und Katar ein. Die Deutschen waren aber auch einsichtig und senkten ihren Verbrauch; ein ungewöhnlich milder Winter half. So blieb der grosse Kälte-Test aus, und die Zustimmungsraten für die Ukraine-Politik der Regierung verharrten ungefähr dort, wo sie bereits kurz nach dem russischen Einmarsch gewesen waren.

Deutschlands schlechtes Gewissen

So ist die Zahl der Befürworter von Sanktionen gegen Russland etwa gleich gross wie jene der Gegner, und eine relative Mehrheit hält es für richtig, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen. Allerdings sind auch rund 60 Prozent der Deutschen der Meinung, es brauche mehr diplomatische Bemühungen zur Beilegung des Konflikts, und nur 15 Prozent meinen, die Waffenlieferungen gingen nicht weit genug. Zwar musste sich Kanzler Olaf Scholz für seine abwartende Haltung bei der Lieferung von Leopard-Panzern sehr viel Kritik anhören, doch dürfte er damit näher bei den Leuten gewesen sein als jene, die frühzeitig nach schweren Waffen riefen.

Auch vom moralischen Charakter der Vorhaltungen, die ihm aus dem In- und Ausland entgegenschlugen, liess sich der Sozialdemokrat nicht beirren. Dabei sind die Deutschen für solche in der Regel empfänglicher als andere Nationen – wegen des Zweiten Weltkriegs, aber auch wegen der allerjüngsten Geschichte. Nicht zu Unrecht schauen Deutschlands Verbündete kritisch auf die Bundesrepublik: Berlins auf Verständigung und Geschäftsinteressen ausgerichtete Russland- und Energiepolitik der letzten Jahrzehnte ist auf dramatische Weise gescheitert.

Auch behielten all jene recht, die seit langem kritisiert hatten, Deutschland gebe gemessen an seiner Grösse und wirtschaftlichen Potenz zu wenig fürs Militär aus. Ob die Ertüchtigung der Bundeswehr, die Scholz in seiner berühmten Rede von der «Zeitenwende» vor einem Jahr angekündigt hat, tatsächlich gelingt, ist nach wie vor offen. Zweifel sind angebracht: Während der Kanzler im Februar 2022 noch davon redete, schon bald «mehr als 2 Prozent» des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in die Verteidigung investieren zu wollen, kündigte er am letzten Wochenende nur noch an, den Etat «auf 2 Prozent» des BIP erhöhen zu wollen.

Die eigentliche Bewährungsprobe steht noch bevor

Verteilungskämpfe zeichnen sich jetzt schon ab. Die Liberalen um Finanzminister Christian Lindner wollen keine Steuererhöhungen, und unter den Sozialdemokraten würden viele lieber in die Infrastruktur oder das Bildungswesen investieren. Noch einmal zehn Milliarden mehr für die Bundeswehr, wie sie der sozialdemokratische Verteidigungsminister Boris Pistorius fordert, seien mit ihr nicht zu machen, sagte die SPD-Chefin Saskia Esken dieser Tage. Erst einmal müsse Pistorius’ Ministerium die Voraussetzungen dafür schaffen, die 100 Milliarden Euro, die Scholz dem Militär vor einem Jahr versprochen hat, sinnvoll einzusetzen.

Damit hat Esken zweifellos recht: Noch geniesst Pistorius, der im Januar auf seine glücklose Parteikollegin Christine Lambrecht folgte, eine Schonfrist. Dass der Entscheid für den Panzerexport in die Anfangstage seiner Amtszeit fiel, hat ihm einiges Lob eingebracht. Seine eigentliche Aufgabe wird aber die Reform der Bundeswehr sein. Hier hat Deutschland durch Scholz’ allzu langes Festhalten an Lambrecht ein Jahr verloren. So dramatisch die Rede des Kanzlers von der Zeitenwende auch ausfiel, war ihm und seiner Partei der Geschlechterproporz doch erst einmal wichtiger.

Dass Deutschland mehr für die Ukraine tut als die meisten europäischen Länder, ging über all der berechtigten Kritik oft vergessen. Nun stellt sich heraus, dass manche Verbündete, die von Berlin lautstark die Lieferung von Kampfpanzern forderten, selbst nicht bereit sind, Panzer aus ihren eigenen Beständen abzutreten. So war es auf der Münchner Sicherheitskonferenz vom letzten Wochenende auf einmal an Scholz, andere aufzufordern, ihren Worten Taten folgen zu lassen.

Grassierender Unernst in der Panzerdebatte

Deutschland ist durch den Krieg ein anderes Land geworden. Geblieben ist die Unduldsamkeit in den Debatten. Wer sich derzeit für Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland ausspricht, muss sich die Unterstellung gefallen lassen, auf Putins Seite zu stehen. «Finde jemanden, der dich so sehr liebt, respektiert und achtet wie Teile der deutschen Elite den russischen Aggressor», höhnte ein bekannter Politologe auf Twitter, nachdem der Philosoph Jürgen Habermas Gespräche mit Moskau gefordert hatte. Als hätte es eine sachlich begründete Kritik an Habermas’ tatsächlich wenig überzeugendem Essay nicht getan.

So erfreulich es auch ist, dass etwa die Grünen ihre einstige Aversion gegen alles Militärische überwunden haben, wirkt die plötzliche Liebe mancher Deutscher zu schwerem militärischem Gerät doch etwas merkwürdig: Wer sah, auf welche Weise einige Politiker, Wissenschafter oder Journalisten Scholz drängten, fragte sich, ob sie den Ernst der Lage wirklich erfasst haben: «#freetheleopards» lautete ein weit verbreiteter Hashtag auf Twitter, manche gaben dem Kampfpanzer den Kosenamen «Leo» und Aussenministerin Annalena Baerbock witzelte auf einer Fasnachtsveranstaltung, sie habe darüber nachgedacht, sich als Leopard zu verkleiden. Nach politischer Reife tönte all das nicht. Wahrscheinlich muss sich Deutschland an seine neue Rolle erst noch gewöhnen.