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Reaktionen

Von «historisch» bis «lächerlich» – so gehen die Meinungen zum Klima-Urteil auseinander

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist auf die Beschwerde des Vereins Klimaseniorinnen eingetreten und hat eine Verletzung der Menschenrechtskonvention festgestellt. So reagieren Polit-Akteure und Organisationen.
Klimaaktivistin Greta Thunberg mit Rosmarie Wydler-Wälti von den Klimaseniorinnen in Strassburg am Dienstag.
Bild: Bild: Jean-Christophe Bott / KEYSTONE

Der EGMR ist in seinem am Dienstag öffentlich bekannt gegebenen Urteil zum Schluss gelangt, dass der Verein zur Beschwerde zugelassen ist, nicht aber die vier Einzelklägerinnen. Die Grosse Kammer hat die Schweiz wegen Verletzung von Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und 6 (Recht auf ein faires Verfahren) verurteilt.

Die Reaktionen auf das Urteil sorgen – Überraschung – für unterschiedliche Reaktionen aus der Schweizer Polit-Landschaft.

Die Grünen

Die Grünen äusserten sich in einer Pressekonferenz zum Thema:

Greenpeace

Bei Greenpeace Schweiz ist man hellauf begeistert, wie Initiator und Projektkoordinator Georg Klingler in einer Mitteilung sagt: «Dieses Urteil für den Schutz der Menschenrechte und das Wohlergehen von uns allen ist ein Weckruf für Bundesrat und Parlament.» Jetzt gelte es, den Klimaschutz in der Schweiz rasch zu verstärken.

Das bestätigt auch Louise Fournier, Juristin bei Greenpeace International, die das Rechtsteam der Klimaseniorinnen unterstützt hat: «Der Kampf um Klimagerechtigkeit hört in Strassburg nicht auf. Wir bringen die Geschichte der Klimaseniorinnen auch vor den Internationalen Gerichtshof, wo Anfang nächsten Jahres Anhörungen zu den Klimagerechtigkeitsverpflichtungen aller Regierungen - auch der Schweiz - stattfinden werden.»

Schweizer Politiker

Umweltminister Albert Rösti findet laut Blick : «Die Schweiz hat entscheidende Schritte für den Klimaschutz unternommen.» Das Volk habe dem Klimaschutzgesetz zugestimmt und im neuen CO2-Gesetz weitere Massnahmen beschlossen. «Kurz gesagt: Die Schweiz ist gut unterwegs.»

Bundespräsidentin Viola Amherd zeigt sich währenddessen überrascht vom Urteil. Dem Land seien Nachhaltigkeit, Biodiversität und das Nettonullziel «sehr wichtig.»

SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer bezeichnet das Urteil als «Ohrfeige für den Bundesrat und seine Untätigkeit im Klimabereich». Es bestätige, was die SP Schweiz seit Jahren fordert: Die Klimawende sei nur mit massiven öffentlichen Mitteln zu erreichen, betont sie mit Verweis auf die eben eingereichte Klimafonds-Initiative.

Bundesamt für Justiz

Auf Anfrage unserer Zeitung, meldete sich das Bundesamt für Justiz zum Fall: «Das Bundesamt für Justiz (BJ), welches die Schweizer Regierung vor dem Gerichtshof vertritt, hat vom Urteil der Grossen Kammer Kenntnis genommen. Dieses ist endgültig und muss umgesetzt werden.» Zusammen mit den betroffenen Behörden würden sie nun das umfangreiche Urteil analysieren und prüfen, welche Massnahmen die Schweiz für die Zukunft ergreifen müsse.

FDP

FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen schreibt auf X, dass das Urteil unverständlich sei.

GLP

Für den Berner GLP-Nationalrat Jürg Grossen ist die Rüge der Strassburger Richter an die Adresse der Schweiz keine Überraschung: «Wir wissen, dass wir nicht genug für das Klima machen.» Es sei aber richtig, dass das nun auch international festgestellt worden sei.

Die Schweiz mit ihren hohen Klimaschulden und gleichzeitig vielen Mitteln in Sachen Technologie und Wissen müsse in Klimafragen ein Vorbild sein, sagte Grossen am Dienstag auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Und weiter: «Wir müssen unsere Hausaufgaben selber machen.»

Zentral dafür sei das am 9. Juni zur Abstimmung kommende Stromgesetz, das den Ausbau erneuerbarer Energien in Inland fördern will. Das CO2-Gesetz, das Grossen als «zahnlos» bezeichnet, sei dagegen ein Beispiel dafür, dass die Schweiz zu wenig mache in Sachen Klimaschutz. Das Gesetz sei jedoch «besser als nichts».

Laut Grossen braucht es insbesondere in den Kantonen weitere Anstrengungen zur Bekämpfung des Klimawandels. Er denkt dabei beispielsweise an die Förderung von Gebäudesanierungen.

Klimastreik Schweiz

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nimmt der Klimastreik die Schweizer Politik in die Pflicht. Der heutige Entscheid stelle den Parlamenten kein gutes Zeugnis aus, hiess es in einer Medienmitteilung am Dienstag.

«Weltweit werden heute die Klimaziele verfehlt. Dies hat einen direkten Einfluss auf unser Leben und das der zukünftigen Generation. Wenn wir über die Gerichte die Parlamente zwingen müssen, unsere Lebensgrundlagen nicht zu zerstören, ist dies zwar ein Armutszeugnis, aber ein notwendiges Übel», schreibt der Klimastreik.

«Wir erwarten vom Bundesrat und dem Parlament, dass alles in Gang gesetzt wird, um das weltweite Ziel einer Begrenzung des Temperaturanstiegs von 1,5 Grad einzuhalten» und «Wir können es uns nicht leisten, noch einmal zehn Jahre vor Gericht zu kämpfen, bis die Dringlichkeit der Klimakrise juristisch anerkannt und dementsprechend gehandelt wird», liessen sich verschiedene Vertreter des Klimastreiks im Communiqué zitieren.

SES

Die Schweizerische Energiestiftung SES bezeichnet das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu den Klimaseniorinnen als historischen Sieg. Das Urteil sei richtungsweisend, schrieb die SES auf X.

Damit sei nun offiziell, dass die Schweiz zu wenig getan habe, um die Bevölkerung in Bezug auf die Klimakrise zu schützen, so die SES.

SP

Die Zürcher Nationalrätin und Co-Präsidentin der SP, Mattea Meyer, zeigt sich auf X dankbar für den Einsatz der Klimaseniorinnen. Die Entscheidung sei wegweisend für den Klimaschutz.

«Danke für euer hartnäckiges, erfolgreiches Dranbleiben für einen zukunftsfähigen Planeten», schrieb Meyer. In einem Communiqué der Partei legte sie noch einmal nach: «Dieses Urteil des höchsten europäischen Gerichts ist eine Ohrfeige für den Bundesrat.»

Und weiter: «Der Klimaschutz und eine sichere Energieversorgung sind die grössten Aufgaben unserer Generationen. Wir müssen den ökologischen Umbau der Schweiz mit öffentlichen Investitionen vorantreiben.»

SVP

Gar ein «Skandal» ist das Urteil für die SVP. «In den europäischen Gerichtspalästen herrschen offensichtlich Ideologie und Realitätsverweigerung», schreibt die Partei in einer Mitteilung. Die Strassburger Richter hätten zu «Marionetten von Aktivisten» gemacht und ihre Glaubwürdigkeit verloren. Die SVP verurteilt diese «Einmischung fremder Richter aufs Schärfste» und wartet mit einer brisanten Forderung auf: Die Schweiz solle aus dem Europarat austreten.

Verein Klimaschutz

Für den Verein Klimaschutz bestätigt das heutige Urteil ein schon lange bestehendes Anliegen des Vereins. Die Schweiz mache nach wie vor zu wenig für den Schutz ihrer Bevölkerung vor den Folgen der Klimakrise.

WWF

Der Sieg der Klimaseniorinnen vor dem Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist laut dem Umweltschutzverband WWF ein Erfolg für alle Generationen. Es sei ein weitreichender Präzedenzfall, schrieb WWF Schweiz auf X. «Offizieller geht’s kaum: Die Schweiz muss endlich handeln», so der Verband.

Internationale Pressestimmen

Auch international ist das Interesse gross. CNN und die New York Times schreiben von einem «bahnbrechenden Klimaprozess». Beim französischen Le Monde titelt man von «Untätigkeit beim Klimaschutz» und beim Spiegel heisst es schlicht: «Schweiz verurteilt». Ein Reporter der Tagesschau war vor Ort dabei und meinte nach dem Urteil: «Die Schweiz muss nachbessern und die Welle der Klimaklagen dürften mit diesem Urteil nicht zu Ende sein, sondern erst recht weiter gehen.»

(watson.ch/ zfo/zen)