Eigentlich hat sich Hansruedi Stadler aus der aktiven Politik zurückgezogen. Jetzt, wo sich die Schicksalsfrage am Gotthard erneut stellt, meldet er sich lautstark zurück.
Herr Stadler, wie würde sich der Bau einer zweiten Röhre auf das Urner Reusstal auswirken?
Hansruedi Stadler: Der Lebensraum wird weiter an Attraktivität verlieren. Eine Studie des Basler Tropeninstituts belegt, dass die an der A2 lebenden Urner und Tessiner bis zu dreimal so häufig von Atemwegerkrankungen betroffen sind wie weiter entfernt wohnende Personen. Mit der zweiten Röhre hätten wir noch mehr Lastwagen, noch mehr Lärm und Abgase. Wer will so etwas?
Bundesrätin Leuthard will eine Kapazitätserhöhung mit einem Dreifachschutz verhindern: Erstens stehe der Alpenschutz in der Verfassung, zweitens sei im Gesetz verankert, dass der Tunnel nur einspurig befahren werden darf. Drittens das Dosiersystem für Lastwagen. Überzeugt Sie das?
Das ist eine Schlaumeierei des Bundesrates. Man baut kein vierstöckiges Haus und benutzt dann die beiden oberen Stockwerke nicht. Auch die Bevölkerung nimmt es Bundesrat und Parlament nicht ab, dass die beiden Röhren nur einspurig betrieben werden. Das zeigt eine Umfrage. Lassen wir uns heute nicht durch Versprechen der Befürworter blenden. Denn sie dürften sich dannzumal bereits aus der politischen Verantwortung verabschiedet haben. Ausbaden müssen es die nächsten Generationen.
Was bedeutet eine zweite Röhre für die Verlagerungspolitik?
Die zweite Röhre ist gegenüber der teureren Neat ein für EU-Lastwagen mit einem roten Teppich ausgelegter Umfahrungstunnel. Man gibt damit der Neat keine Chance. Sie wird sabotiert und die Verlagerungspolitik wird demontiert. Die Milliarden, die wir in die Neat gesteckt haben, sind dann für die Katze.
Das Lastwagen-Aufkommen am Gotthard geht zurück. Warum malen die Gegner das Schreckgespenst einer Lastwagen-Lawine an die Wand?
Ich war zwölf Jahre Regierungsrat und zehn Jahre Ständerat und habe gesehen, wie Realpolitik funktioniert. Wenn die zweite Röhre gebaut und bezahlt ist, braucht es nur den ersten Ferienstau und schon wird innenpolitischer Druck aufgebaut. Dazu kommt aussenpolitischer Druck. Die EU hat den Entscheid von Bundesrat und Parlament für eine zweite Röhre mit Freude zur Kenntnis genommen.
Wie meinen Sie das?
Die EU bezeichnete in einer ersten Stellungnahme den Gotthard als Ventil. Wenn Schwierigkeiten auf anderen Transitachsen auftauchen, dann wird die EU Druck auf den Gotthard ausüben. Die kürzesten Transitwege führen durch die Schweiz. Der Druck auf die Schweiz ist gross, beim Gotthard Konzessionen zu machen.
Die EU-Minister haben aber zugesichert, dass die einspurige Befahrung mit dem Landesverkehrsabkommen vereinbar sei.
Welche Zusicherung? Ein nettes Schreiben einer EU-Kommissarin ist noch keine Zusicherung und ohne jegliche rechtliche Relevanz. Europarechtler haben den Bundesrat gewarnt, dass eine einspurig betriebene Röhre durch das Landverkehrsabkommen nicht abgesichert sei. Auch diese Warnung hat man einfach in den Wind geschlagen. Am Brenner sieht man, was europäische Verkehrspolitik heisst: eine vierspurige Autobahn und doppelt so viele Lastwagen wie auf sämtlichen Schweizer Alpenübergängen zusammen. Das Tirol, das den Transitverkehr beschränken wollte, wurde von der EU zurückgepfiffen.
Der Kanton Uri ist gespalten: Das Parlament ist für eine zweite Röhre, die Regierung dagegen. Wo stehen
die Urner?
Die Urner Bevölkerung hat vor vier Jahren die genau gleiche Salamivorlage für eine zweite Röhre bachab geschickt. Für mich ist dies ein Volksauftrag. Die Regierung vertritt ihn. Wenn nun Befürworter dem Regierungsrat in den Rücken fallen, ist dies für mich eine Geringschätzung des Volkswillens und der demokratischen Spielregeln.
Welche Lösung bevorzugen Sie, um den Tunnel zu sanieren?
Das Bundesamt für Strassen hat das Parlament falsch informiert. Es behauptete, dass die Sanierung bereits 2025 erfolgen müsse. Jetzt wissen wir, dass es die Sanierung bis 2035 nicht braucht. Ein Nein zur zweiten Röhre macht den Kopf frei für innovativere, bessere und günstigere Lösungen. Das Konzept, das ich bevorzuge, wurde von namhaften Verkehrsexperten ausgearbeitet. Es basiert auf einem Autoverlad von Göschenen nach Airolo, einer Kurz-Rola für den Binnenverkehr von Erstfeld nach Biasca und einer Lang-Rola für Lastwagen von Grenze zu Grenze.
Für Verlade-Stationen hat der Kanton Uri kaum Platz. Eine Kurz-Rola für den Binnenverkehr würde den Kanton mit Staus und Luftverschmutzung erheblich belasten.
Eine Kurz-Rola braucht erheblich weniger Land als der Bau einer zweiten Röhre. Es ist auch lediglich eine vorübergehende Beanspruchung. Dann sind die Voraussetzungen heute auch so, dass eine Lang-Rola von Grenze zu Grenze eingerichtet werden kann. Ja, die Lastwagen gehören von Grenze zu Grenze auf die Bahn, so wie dies der Alpenschutzartikel in der Bundesverfassung fordert.
Fünfmal haben sich die Urner gegen eine zweite Röhre ausgesprochen. Werden sie das ein weiteres Mal tun?
In vier Monaten wird die Neat eröffnet. Sie ist das Kernstück für die Verlagerung der Container von Grenze zu Grenze. Es kann nie im Interesse von Uri sein, dass diese Verlagerungspolitik scheitert. Die Befürworter nehmen dies aber mit dem Bau einer zweiten Röhre leichtfertig in Kauf. Vom Scheitern der Verlagerungspolitik wird nicht nur Uri, sondern es werden alle Menschen entlang der Achse Basel–Chiasso und auf allen Zufahrtstrassen zu dieser Achse betroffen sein, mit Mehrverkehr, mehr Lärm und schlechter Luft.
Autofahrer haben bei der Durchfahrt durch den Gotthard-Strassentunnel mit Gegenverkehr ein mulmiges Gefühl. Ein zweiter Tunnel könnte Unfälle verhindern.
Der Bundesrat hat auf einen Vorstoss der Verkehrskommission geantwortet: «Seit der Brandkatastrophe von 2001 sind die Unfallraten signifikant gesunken und der Gotthard-Strassentunnel gehört zu den sichersten Nationalstrassentunnels.» Jeder Tote auf der Strasse ist einer zu viel. Doch mit drei Milliarden kann man auf sämtlichen Schweizer Strassen mehr für die Sicherheit tun, als mit drei Milliarden für die zweite Röhre am Gotthard. Wir können 100 Tunnels bauen, menschliches Fehlverhalten kann nie ausgeschlossen werden.
Im Vordergrund steht heute das Argument «Sicherheit». Bewegt der Alpenschutz die Leute heute nicht mehr?
Die Alpen liegen den Menschen immer noch am Herzen. Sie sind unser Lebensraum, Wasserreservoir, Erholungsgebiet und nicht nur eine Transitschleuse. Wie hiess doch eben das Motto der Schweiz an der Expo in Mailand? «Hat es genug für alle?» Wir können nicht jeden Mobilitätswahn mit einem Wettrüsten der Strasseninfrastrukturen befriedigen. Sonst wirds nicht genug für alle haben, nicht genug Raum, nicht genug saubere Luft, nicht genug Alpen.
Trotzdem: Der Kampf wird heute nicht mit ökologischen Argumenten ausgefochten. Weshalb?
Das kann ich nicht beurteilen. Für mich sind das zentrale Argumente.
Sie wurden persönlich für Ihr Engagement gegen die zweite Röhre angefeindet. Wie ist das für Sie?
Das zehrt an meinen Kräften. Doch das hindert mich nicht daran, den Volksauftrag ernst zu nehmen und ich knicke auch nicht wegen Druckversuchen ein.
Führen Sie bei einem Nein am
28. Februar in Altdorf nochmals
einen Freudentanz auf?
Nein. Das Original kann nicht kopiert werden.