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Ukraine-Krieg

Ukrainischer Geheimdienst geht von vielen untergetauchten Russen in Cherson aus

Während Moskau den planmässigen Abzug von allen Truppen samt Material aus Cherson vermeldet, ruft die Ukraine sich versteckt haltende feindliche Soldaten dazu auf, sich zu ergeben.

Noch im März hatte die Bevölkerung von Cherson gegen die anrückenden Russen mit ukrainischen Fahnen demonstriert. Am Freitag feierten sie ebenso leidenschaftlich die Ankunft der eigenen Truppen.
Bild: AP

Noch am Donnerstag spekulierten Experten über die wahre Absicht hinter dem angekündigten russischen Abzug aus Cherson. Nicht wenige vermuteten hinter der eher plump-steifen Inszenierung im Staatsfernsehen von Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Befehlshaber Sergei Surowikin ein russisches Täuschungsmanöver, eine sogenannte «Maskirovka».

Dies in der vermeintlichen Absicht, die nachstossenden ukrainischen Truppen in die Falle und einen blutigen Häuserkampf zu locken. Doch wurden derlei Spekulationen im Laufe des Freitags rasch beseitigt; und zwar bevor noch die ersten Bilder von einmarschierenden ukrainischen Truppen und blau-gelben Fahnen in Chersons Stadtzentrum zirkulierten.

Mit der Sprengung der beiden bereits beschädigten Antonovsky-Brücken sowie einer Pontonbrücke im Nordosten der Stadt kappten die Russen sämtliche festen Verbindungen über den Dnipro-Strom. Allfällig in Cherson verborgen gebliebene Hinterhalttruppen hätten also ohne Aussicht auf Rückzug und Nachschubmöglichkeiten ihren letzten Kampf gegen die vorrückenden Ukrainer austragen müssen.

Dieses Satellitenbild vom Freitag zeigt die an mehreren Stellen gesprengte Antonovsky-Strassenbrücke in Cherson und die ebenfalls beschädigte, parallel verlaufende Pontonbrücke.
Bild: AP

Stattdessen verkündete das russische Verteidigungsministerium am Freitagmorgen die «planmässige Räumung» des westlichen Dnipro-Ufers.

Laut Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow wurden um 5 Uhr morgens die letzten Einheiten «samt Technik und Ausstattung sowie ohne Verluste» auf das linke Flussufer in Sicherheit gebracht. Zahlenmässig bezifferte Moskau die Anzahl übergesetzter Soldaten auf 30'000.

Ob dabei tatsächlich nichts und niemand zurückgelassen wurde, liess sich gestern noch nicht verifizieren. In den sozialen Netzwerken tauchten lediglich Bilder von haufenweise herumliegenden russischen Minen auf; wobei selbst aus diesen Bildern nicht klar hervorging, ob sie aus der Gegend um Cherson stammten.

Russischen Versprengten in Zivilkleidern droht der Tod

Der ukrainische Militärgeheimdienst vermeldete seinerseits am Freitag, dass Russland bis zu 20'000 Soldaten auf der westlichen Uferseite zurückgelassen habe, um den Rückzug der übrigen Truppen zu decken. In der Meldung auf seiner Website bezog sich der Militärgeheimdienst allerdings auf ein Interview von Vize-Geheimdienstchef Vadym Skibitski, das dieser bereits am Donnerstag dem britischen «Guardian» gegeben hatte.

Entsprechend müssen auch diese Angaben mit Vorsicht genossen werden. Nichtsdestotrotz rief der ukrainische Militärgeheimdienst alle in Cherson untergetauchten und vielleicht als Zivilisten verkleideten russischen Soldaten dazu auf, sich zu ergeben.

Dies sei die einzige Möglichkeit, dem sonst sicheren Tod zu entgehen: «Euer Kommando hat euch der Gnade des Schicksals überlassen. Eure Kommandeure drängen euch, in zivile Kleidung zu wechseln und zu versuchen, auf eigene Faust aus Cherson zu entkommen. Selbstverständlich werdet ihr das nicht können», hiess es in einem auf sozialen Medien in russischer Sprache veröffentlichten Appell.

Russland hält am Gebietsanspruch fest

Während russische Kommentatoren die Flucht aus Cherson überwiegend als «Umgruppierung» und gelungene militärische Rückzugsoperation lobten, betonte der Kreml den ungebrochenen territorialen Anspruch auf Stadt und gleichnamige Oblast.

Das Gebiet Cherson bleibe Teil der Russischen Föderation, zitierte die Nachrichtenagentur Interfax am Freitag den Kremlsprecher Dmitri Peskow:

«Dieser Status ist per Gesetz bestimmt und gefestigt. Hier gibt es keine Änderungen und kann es keine geben.»

Ebenso wenig werde es zu einer Einstellung der Kampfhandlungen kommen. «Kiew will keine Gespräche, also geht die militärische Spezialoperation weiter», so Peskow weiter.

Wie um dies zu betonen, beschoss Russland laut eigenen Angaben am Freitag mit Artillerie die soeben erst aufgegebenen Gebiete am Westufer. Laut einer Sprecherin des ukrainischen Südkommandos im Fernsehen hätten die eigenen Truppen aber einen solchen Gegenschlag erwartet.