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Kommentar

Über ihre Politik kann man sich streiten, aber: In einem Punkt ist Simonetta Sommaruga ein grosses Vorbild

Jeder Mensch hat Ängste, Nöte und seine zutiefst persönlichen Probleme. Sogar Bundesräte. Darüber offen zu sprechen und danach zu handeln, ist eine Stärke, keine Schwäche. Ein Kommentar.

Bundesrätin Simonetta Sommaruga am 2. November 2022, als sie ihren Rücktritt ankündigt.
Bild: Keystone

Wie gut Simonetta Sommaruga ihren Job als Bundesrätin gemacht hat, darüber gehen die Meinungen auseinander. Doch unabhängig davon, wie man zu ihrer Umwelt- oder Energiepolitik steht: In der Stunde ihrer Rücktrittserklärung hat Sommaruga neue Massstäbe gesetzt - mit Offenheit und Ehrlichkeit.

Bundesräte sprechen kaum je über Privates, geschweige denn über ihre Sorgen und Nöte. So entsteht die Illusion, nach der Wahl in das erlauchte Regierungsgremium blieben für diesen Menschenschlag einzig noch rein politische Probleme übrig.

Am Mittwoch berichtete Simonetta Sommaruga, die in ihren 12 Amtsjahren durch Sachlichkeit und Selbstkontrolle auffiel, tief bewegt über den Schlaganfall ihres Ehemanns Lukas Hartmann. Es sei ein Schock gewesen, sagte sie. «Ich habe persönlich viel durchgemacht.» Sie habe gemerkt: «Ich will den Schwerpunkt in meinem Leben anders setzen.»

Allzu lange wurde das Eingeständnis von gesundheitlichen oder anderen privaten Problemen – bei sich selbst oder im familiären Umfeld – unterdrückt. Bundesrat Hans Hürlimann verlor 1980 einen Sohn, weil er Krebs hatte. Durch dessen Bruder, Schriftsteller Thomas Hürlimann, ist überliefert, dass das Familienoberhaupt zu Hause noch unbesehen hohe Gäste empfing, als sein kranker Sohn im Zimmer dem Tod entgegen ging. Niemand durfte es wissen. Robust und unerschütterlich musste ein so wichtiger Mann nach aussen wirken. Immer, in jeder Situation.

Natürlich ist der Umgang mit den eigenen Nöten eine Gratwanderung. Schnell kommt der Vorwurf, man erheische Mitleid. Jeder muss selber entscheiden, wie er es macht.

Aber Sommarugas offenherzige Begründung – sie hätte es ja auch viel weniger konkret formulieren können – zeigt Menschlichkeit, die vielen, die ähnliche Schicksale erleben, Mut macht. Wer kennt nicht die Situation, wo einem alles zu viel wird? Wo man nicht mehr allen und allem genügen kann, weil (zu) vieles zusammenkommt?

Darüber zu reden, offen damit umzugehen: Das sollte im Jahr 2022 nicht mehr als Schwäche, sondern als Stärke gesehen werden.