notifications
Gastkommentar

Totale Transparenz ist ein Trugschluss

Transparenz ist auch in der Wirtschaft das Gebot der Stunde. Doch Transparenz hat auch eine Kehrseite: Sie lässt das Vertrauen erodieren. Doch ohne Vertrauen funktioniert kein Wirtschaftssystem, kein Unternehmen. Wie der Untergang der Credit Suisse zeigt.  
Die Credit Suisse scheiterte auch wegen des mangelnden Vertrauens. 
Bild: Bild: Keystone

Das Leben wäre so schön, wenn es doch einfach wäre. Transparente Informationen, klare Regeln, klare Ergebnisse – von diesem Zusammenhang ist vor allem unser Wirtschaftsleben bestimmt. Mit Beginn des Jahres 2024 treten die neuen EU-Reportingregeln zu ESG (Environmental, Social und Governance) in Kraft, die auch für Schweizer Unternehmen relevant sind. Sie sollen mehr Transparenz schaffen und Unternehmen an ihre sozialen und ökologischen Verpflichtungen erinnern. Das Ziel ist klar, die Umsetzung wird vermutlich komplizierter.

Auch mit der Transparenz ist das nicht immer so eine einfache Sache. Sie ist ein paradoxes Phänomen, wie das gleichnamige Thema am 14. Geschäftsberichte-Symposium am Gottlieb-Duttweiler Institut verdeutlicht hat. «Sonnenlicht ist das beste Desinfektionsmittel», schrieb Louis Brandeis, Richter am Obersten Gericht der USA, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nur durch Transparenz schafft eine Gesellschaft die Möglichkeit zur Kontrolle von Machtmissbrauch und Fehlverhalten. Diese Einsicht stammt aus der Zeit der Aufklärung. Am Übergang von autoritären Regimen der Willkürherrschaft zur modernen, aufgeklärten Gesellschaft war das noch ein revolutionärer Gedanke. Heute gehört die Forderung nach Transparenz zum Kern einer funktionierenden Wirtschaft und Gesellschaft.

Wer intransparent ist, hat schlechte Karten. Transparenz ist zu einem Kampfbegriff geworden.

Kleidungsmarken, die nicht lückenlos nachweisen können, wo und wie ihre Ware produziert wird, werden boykottiert. Entscheidungsprozesse, die nicht von Beginn an öffentlich dokumentiert sind, unterstehen sogleich dem Verdacht der Mauschelei.

Louis Brandeis wäre glücklich über die praktischen Folgen seiner Einsicht. Die heisst übersetzt auch: Transparenz ist gut, denn Kontrolle ist besser. 1993 wurde die Organisation Transparency International gegründet, um Korruption zu bekämpfen. Die blüht in der Dunkelheit, aber selten dort, wo helles Licht hin scheint. Institutionen, wie die OECD oder der IWF, haben sich Transparenz im Umgang mit Geld, Unterstützung, Information auf die Fahnen geschrieben. Die Politik reguliert an vielen Stellen Komplexität über Anforderungen an Transparenz.

Und doch löst das nicht alle Probleme. Wachsende formelle Anforderungen an Transparenz lassen eine andere Institution erodieren - das Vertrauen. Das brauchen wir ebenso dringend, damit Wirtschaft und Gesellschaft funktionieren. «Wer verlangt, dass alles transparent ist, hat sich praktisch vom Vertrauen verabschiedet», sagt Rachel Botsman, Vertrauensforscherin an der Universität Oxford.

Man kann noch so viel Transparenz schaffen durch Regulierung und Reportingvorgaben, ohne Vertrauen funktioniert kein Wirtschaftssystem. Das hat sich soeben wieder an den Beispielen der Silicon Valley Bank und der Credit Suisse gezeigt. Beide Banken waren nicht per se dem ökonomischen Tod geweiht. Aber die Anlegerinnen und Anleger haben das Vertrauen verloren, mit den Füssen abgestimmt, ihr Geld zu anderen Banken getragen und den beiden damit den Todesstoss versetzt. Wirtschaft wächst auf Vertrauen, jeder Kredit auch. Wie es der Wortstamm sagt: das lateinische «credere» heisst übersetzt «glauben». Auf Unglauben und Misstrauen lässt sich kein Geschäft bauen.

In den 1990er-Jahren haben viele bejubelt, wie das Internet und die sozialen Medien endlich Transparenz schaffen und damit zu einer demokratischen öffentlichen Kommunikation beitragen. Inzwischen ist unsere Kommunikation zu einer an Stammesgesellschaften erinnernde Kampfzone um «alternative Fakten» geworden. Im Wust der Informationsüberflutung lassen sich krasseste Lügen so platzieren, dass sie wie Wahrheiten wirken. In dieser simulierten Transparenz wird das Sonnenlicht vom Desinfektionsmittel zum Tarnumhang für Fake News.

Zurück zu ESG. Transparenz und Reporting ist sicher hilfreich. Ebenso wichtig aber ist das Vertrauen, das jetzige und nachfolgende Generationen haben, gemeinsam die Welt ein Stück besser machen zu können.

Professorin für Corporate Communication und Direktorin des Instituts für Medien- und Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen.