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KATAR-GATE

Taschen voller Geld, ein Freund der Schweizer Gewerkschaften und die Italien-Connection: Was wir zum Korruptionsskandal im EU-Parlament wissen

Mit hunderttausenden von Euros und Geschenken soll Katar Abgeordnete des EU-Parlaments geschmiert haben. Darunter auch die Vize-Präsidentin der EU-Volksvertretung. Kommen bald noch mehr Details ans Licht? Was bis jetzt bekannt ist.

Verliert zumindest vorübergehend alle ihre Befugnisse als EU-Parlaments-Vize: Die unter Korruptionsverdacht stehende Eva Kaili. 
Bild: Jalal Morchidi / EPA

Die Nachricht schlug ein wie eine Bombe: Nach monatelangen Ermittlungen griff die belgische Staatsanwaltschaft am Freitag in Brüssel zu. Bei 16 Razzien wurden insgesamt sechs Personen verhaftet und 600’000 Euro sowie Handys und Computer beschlagnahmt. Es geht um den grössten Korruptionsskandal im EU-Parlament.

Verdacht: Katar kaufte sich eine Image-Politur

Gemäss den belgischen Behörden hat ein nicht näher genannter Golfstaat während Monaten versucht, Einfluss auf politische Entscheidungsträger im EU-Parlament zu nehmen. Dabei flossen grosse Summen an Bargeld und Sachgeschenke. Laut Medienberichten handelt es sich beim betreffenden Land um Katar. Anscheinend ging es darum, im Vorfeld der WM-Fussballmeisterschaft das Image aufzupolieren.

Im Zentrum die Parlaments-Spitze

Prominenteste Person unter den Verhafteten ist Eva Kaili, die Vize-Präsidentin des EU-Parlaments. Die griechische Sozialistin und ehemalige TV-Moderatorin sitzt seit Freitag in Haft. Gemäss der belgischen Wirtschaftszeitung «L'Echo» sollen bei ihr zu Hause «Taschen voller Geld» gefunden worden sein. Zuvor soll ihr Vater mit einem Koffer mit einer grossen Menge Bargeld angehalten worden sein. Ihr Lebensgefährte Francesco G., der im EU-Parlament als Mitarbeiter tätig ist, ist ebenfalls in Haft. Ebenso der ehemalige EU-Parlamentarier Pier Antonio Panzeri, der in Brüssel eine Menschenrechtsorganisation namens «Fight Impunity» führt. Francesco G. arbeitete vorher für ihn. Verhaftet wurde auch der Boss des Europäischen Gewerkschaftsbund Luca Visentini. Am Sonntag wurde bekannt, das auch beim belgischen EU-Parlamentarier Marc Tarabella eine Hausdurchsuchung stattfand. Für alle Genannten gilt die Unschuldsvermutung.

Ein Freund der Schweizer Gewerkschaften

Mindestens einer der Involvierte ist in der in der Schweiz kein Unbekannter: Luca Visentini. Er kämpfte an der Seite der hiesigen Gewerkschaften aktiv gegen das Rahmenabkommen mit der EU und gegen die Aufweichung des Schweizer Lohnschutzes. Im März 2021 schrieb er dazu auch einen Brief an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Neben seiner Tätigkeit als Gewerkschafter betätigt sich der Italiener in seiner Freizeit als Dichter und Autor.

Verbündeter der Schweizer Gewerkschaften: Luca Visentini.
Bild: Keystone

Die Italien-Connection

Auffällig ist: Alle Verhafteten sollen italienische Staatsangehörigen sein oder haben wie Kaili über ihren Partner enge persönliche Beziehungen zu Italien. Alle gehören zudem der sozialdemokratischen Parteifamillie Europas an oder stehen ihr nahe. Ob weitere Abgeordnete und Personen im Umfeld des EU-Parlaments in den Skandal involviert sind, wird sich zeigen.

Lobende Worte für das Wüstenemirat

Über die konkrete Gegenleistung für die Zuwendungen kann im Moment nur spekuliert werden. Klar ist: Kaili äusserte sich verschiedentlich positiv über das wegen Menschenrechtsverletzungen in der Kritik stehende Katar. Im Rahmen einer Debatte des EU-Parlaments sagte sie noch im November, Katar habe eine «Vorreiterrolle» in Sachen Arbeitnehmerrechte inne. Katar zeige, dass Sportdiplomatie einen historischen Wandel in einem Land bewirken kann, dessen Reformen die arabische Welt inspiriert haben», so Kaili. Auch Gewerkschafter Visentini äusserte sich anerkennend. Auffällig ist auch, die Mehrheit der sozialdemokratischen Abgeordneten stimmten Ende November im EU-Parlament gegen eine Resolution, welche die Menschenrechtslage in Katar anprangerte.

EU-Parlamentarier geniessen Immunität – ausser...

Eigentlich geniessen EU-Parlamentarier wie nationale Parlamentarier Immunität vor Strafverfolgung, die ihnen die unabhängige Ausübung ihres Amtes ermöglichen soll. Allerdings besagt die Geschäftsordnung des Parlaments, dass ein EU-Abgeordneter sich nicht auf Immunität berufen kann, wenn er bei der offenen Ausübung einer Straftat erwischt wird. Anscheinend sahen die belgischen Behörden diese Bedingung als gegeben an.

Wie es weitergeht

Der belgische Untersuchungsrichter hat am Sonntag entschieden, vier der sechs Verhafteten weiter in Gewahrsam zu behalten. Gemäss belgischen Medien soll auch die Vize-Präsidentin Eva Kaili darunter sein. Laut italienischen Medien zieht der Skandal zudem bereits Kreise über Belgien hinaus: auch die Frau und die Tochter des ehemaligen italienischen Abgeordneten Pier Antonio Panzeri seien in Italien verhaftet worden. Mehrere Fraktionen im EU-Parlament fordern nun, die für kommende Woche angesetzte Abstimmung über Visa-Erleichterungen für Katar auszusetzen.

Die Politik unter Schock

Die politischen Reaktionen gehen hoch. Noch am Freitagabend wurde Kaili von den griechischen Sozialisten aus der Partei ausgeschlossen. Auch die sozialdemokratische Fraktion im EU-Parlament suspendierte die 44-Jährige. Parlamentspräsidentin Roberta Metsola hat Kaili vorübergehend von ihrem Amt entbunden. Jens Geier, der Leiter der deutschen Delegation der Sozialdemokraten, forderte Kaili zum Rücktritt auf. «Es kann keinen Tag so weitergehen», so Geier. Auch aus den anderen Fraktionen äusserte man sich konsterniert und forderte umgehende und vollständige Aufklärung. Gerade für das EU-Parlament, welches sich als Vorkämpfer für Transparenz und gegen Korruption versteht, ist der Rufschaden gross. Der Sprecher von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, dessen Land sich einen Korruptionsstreit mit der EU liefert, twitterte bereits, er freue sich auf all die Stellungnahmen jener Abgeordneten, welche sonst gegen Korruption anschrieben.

Lobby-Dschungel Brüssel

Die EU-Hauptstadt Brüssel ist ein riesiges Tummelfeld für Lobbyisten und Interessensvertreter. Unternehmen investierten Millionen. Das EU-Parlament verfügt zwar über ein Lobbyregister und eigentlich fortschrittliche Transparenzregeln. Aber gerade staatliche Akteure wie Vertreter von Nicht-EU-Mitgliedsländer müssen sich nicht einschreiben und erhalten Zugang zum EU-Parlament. Michiel van Hulten, Direktor von «Transparency International EU» kritisiert, dass sich über Jahrzehnte eine «Kultur der Straflosigkeit» eingenistet habe mit einer Kombination aus laxen Finanzregeln und einem völligem Mangel an unabhängiger Aufsicht. Als ersten Schritt einer grundlegenden Reform müsse die EU-Kommission nun endlich ihren lange verzögerten Vorschlag eines unabhängigen Ethikgremiums mit Vollstreckungskompetenzen vorlegen.