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Ukraine-Krieg

Putins Winterwaffe: Jetzt beginnt der Stromkrieg – so reagiert die Ukraine

Vor Beginn der Heizsaison wächst die Gefahr massiver russischer Angriffe auf die Energieinfrastruktur – und die Schwäche der ukrainischen Flugabwehr wird zum entscheidenden Faktor.
Der Fluch der Luftangriffe: Ukrainische Feuerwehrleute bekämpfen am 1. Oktober einen Brand nach einem Raketentreffer in Charkiw.
Bild: Andrii Marienko/AP

Mit dem Oktober sinken in der Ukraine die Temperaturen erstmals unter zehn Grad. Bald beginnt die Heizsaison – jener Zeitpunkt, an dem in den vergangenen Jahren jeweils massive russische Angriffe auf die Energieinfrastruktur eingesetzt haben.

Schwere landesweite Blackouts gab es bislang nur im Winter 2022/2023 sowie im Sommer 2024, als – welche Ironie – wegen der Hitze der Stromverbrauch für Klimaanlagen sprunghaft anstieg. Doch schon in den vergangenen Tagen registrierten die Behörden erneut russische Angriffe auf Kraftwerke und Leitungen von Charkiw bis Odessa. Zehntausende Menschen waren oder sind weiterhin ohne Strom. Besonders angespannt war die Lage am Donnerstag in der Region Tschernihiw: Dort gelang es den Behörden nicht einmal, den eigentlich geplanten Rhythmus von drei Stunden Strom und sechs Stunden Abschaltung einzuhalten. Dass Moskau in diesem Herbst auf seine Stromoffensive verzichtet, gilt unter der ukrainischen Bevölkerung als ausgeschlossen.

Tatenlos will man dem aber nicht zusehen; «Wenn sie mit einem Blackout in Kiew drohen, muss der Kreml wissen, dass auch Moskau verdunkelt werden kann», erklärte Präsident Wolodimir Selenski kämpferisch. Auch Generalstabschef Andrij Hnatow bekräftigte: «Jede Aktion des Feindes, die unserem Land schadet, wird eine symmetrische Antwort finden. Wir werden die Mittel und die Waffen finden, um diese Operationen durchzuführen.»

Ob die Ukraine tatsächlich in der Lage ist, eine solche Antwort zu geben, bleibt vorerst fraglich. Zwar trafen ukrainische Drohnen zuletzt erfolgreich russische Ölinfrastruktur und lösten Benzinknappheit aus. Doch für den Bau eigener Langstreckenraketen fehlt das Geld – und die Debatte über mögliche US-Lieferungen von Tomahawk-Marschflugkörpern ist bisher rein theoretisch.

Keine Mega-Blackouts, aber regionale Ausfälle wahrscheinlich

Für die kommende Heizsaison gibt es demnach für die Ukraine eine gute und eine schlechte Nachricht. Ein flächendeckender Stromausfall im ganzen Land – wie im Dezember 2022 zeitweise geschehen – gilt als unwahrscheinlich. «Ich sehe keine Mega-Blackouts kommen», sagte Oleksandr Chartschenko, Direktor des Zentrums für Energiestudien, dem Onlinemedium NV. Dagegen sind regionale Stromausfälle verschiedener Dauer sehr wahrscheinlich. Auch Abschaltungen zu Spitzenzeiten des Verbrauchs gelten als sicher. Entscheidend wird sein, ob die Reparaturbrigaden Schritt halten können oder durch eine Häufung von Angriffen überlastet werden.

Besonders heikel wäre ein gleichzeitiger Beschuss von Kraftwerken, Leitungen und Gastransportsystemen in mehreren angrenzenden Regionen. In diesem Fall könnten Ausfälle entstehen, die sich nicht rasch beheben lassen. Neben dem Stromnetz ist vor allem das veraltete ukrainische Heizsystem anfällig – auch ohne russische Angriffe. Im vergangenen Winter blieben Städte wie Krywyj Rih wochenlang ohne Heizung, obwohl der Beschuss dort vergleichsweise gering war. Dass der Winter mild verlief, war damals ein klarer Vorteil für die Ukraine.

Das Energieministerium in Kiew gibt sich zuversichtlich. Demnach sind die meisten Reparaturen abgeschlossen, und insgesamt stünden 17,6 Gigawatt Reservekapazität bereit – genug, um einen landesweiten Blackout nahezu auszuschliessen.

Reserven vorhanden – Flugabwehr bleibt Schwachpunkt

Sorgen bereiten jedoch die Flugabwehr und die massiv ausgeweitete Drohnenproduktion Russlands. Zwar setzt Moskau derzeit weniger Drohnen ein als im Frühjahr, als nächtliche Angriffe mit bis zu 800 Flugkörpern registriert wurden. Doch Beobachter rechnen damit, dass Russland Raketen und Drohnen sammelt, um im Winter ähnlich intensiv wie im Frühjahr oder im Juni zuzuschlagen.

Der Ukraine gehen die Pariot-Luftabwehrraketen aus.
Bild: Imago/Chameleons Eye

Die grösste Bedrohung sind nicht die billigen Drohnen selbst – gegen diese hat die Ukraine inzwischen ein mehrstufiges Abwehrsystem aufgebaut, bestehend aus mobilen Teams, den deutschen Flakpanzern Gepard, dem bereits erfolgreich getesteten Nachfolger Skyranger sowie Abfangdrohnen. Das Problem ist die Überlastung der Abwehr, wodurch mehr ballistische Raketen und Marschflugkörper durchkommen. Diese richten ungleich grösseren Schaden an.

Besonders alarmierend: Laut «Financial Times» sank die Abfangquote ballistischer Raketen im August von 37 auf lediglich 6 Prozent, obwohl deren Einsatz insgesamt zurückging. Grund sei die verbesserte Technik russischer Iskander- und Kinschal-Raketen, die Patriot-Raketensysteme – neben SAMP/T die einzigen geeigneten Abwehrwaffen – zunehmend umgehen könnten.

Diese Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu geniessen: Unter «ballistisch» werden auch im Boden-Boden-Modus eingesetzte S-300- und S-400-Flugabwehrraketen erfasst, die aus kurzer Distanz auf Städte wie Charkiw oder Saporischschja abgeschossen werden und kaum abzufangen sind.

Trotzdem bleibt die Lage angespannt. Die unklare Situation bei US-Lieferungen und die knappe Verfügbarkeit von Patriot-Raketen verschlechtern die Ausgangslage für die Ukraine – und machen das Energiesystem vor Beginn der Heizsaison noch verwundbarer als sonst.

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