Eine der frühesten Orgien in Europa spielte sich ab in einem Morast aus Kadavern, Knochen, Blut und Gekröse.
Was für ein Triumph, was für ein Rausch! Ein Schlachtfest ohnegleichen. Ein Bacchanal, dessen Spuren sich bis heute erhalten haben, 160 000 Jahre lang – und das will etwas heissen.
Nicht weniger als elf geschlachtete Mammuts und drei tote oder verendende Wollnashörner waren das Festmahl. Dieser Berg von Fleisch bedeckte nicht bloss eine Lichtung; er füllte einen ganzen Riss in der Landschaft, bei einem Felsen namens La Cotte de St. Brelade, an der heutigen Südküste der Insel Jersey.
Damals schwappte im Ärmelkanal noch kein Meer, als diese wundersame Beute in die Hände einer kleinen Schar von bemerkenswerten Wichten fiel.
Mit dem Coup hatten sie einmal mehr ihre beste Fähigkeit unter Beweis und alle Jäger seither in den Schatten gestellt. Die Inuit schafften Ähnliches in ähnlich kalten Gefilden, plus ein paar Indianer – aber viel später und bei erheblich besserer Technik. Sonst niemand.
Die phänomenalen Burschen hatten die Tiere irgendwie in Panik versetzt. Eines nach dem anderen liefen sie ins Verderben und stürzten brüllend ab, fast so wie geplant: elf Mammuts und drei Nashörner, auf einen Schlag! In der Gegend gab es Löwen und Hyänen.
Aber kein Raubtier hätte diese Herde auf solche Weise jagen können. Es musste sich um einen weit gefährlicheren Räuber handeln – um Neandertaler!
Ach, die Neandertaler ...
Findige, harte, zähe Jäger. Vom Hunger, von der Kälte, von Bestien kaum umzubringen. Und doch gutmütige «Tscholi», die auf fast jede Finte oder Täuschung hereinfielen. Weil sie nicht abgekocht genug waren, um andere zu betrügen.
Schweigsame Chrampfer, todesmutig, allen Strapazen trotzend, aber bieder. Keine Maulhelden, keine Blender. Kumpel, die lieber für die Familie schauten und bei der Familie blieben, Frau und Kinder sogar mit auf die Jagd nahmen, statt am grossen Feuer von Märchen und Mythen zu faseln.
Neandertaler stellten Zehntausende von brauchbaren Faustkeilen her, statt aus Knochen Flöten und Löwenmenschen zu schnitzen oder nutzlose Antilopen an die Höhlenwand zu malen.
Nichts nahmen sie für ein Symbol, kaum etwas zum Anlass wichtig raunender Rituale, nicht mal den Tod ihrer Ahnen. Alles sahen sie pragmatisch. Neues fiel ihnen selten ein. Sie handelten, wie es seit alters her überliefert wurde. In der Natur, für und gegen die Natur waren sie die Besten, 150 000 Jahre lang.
Nie mehr seither stellte sich ein Kleinwüchsiger so tollkühn, so hautnah einem Monster entgegen, das ihn an Grösse um das Fünffache, an Gewicht um das Zehnfache und an Kraft um das Hundertfache übertraf, sei es Mammut, Rhino oder Büffel. In der Hand nur einen Faustkeil.
Keiner kam ohne grobe Verletzungen davon, seit früher Jugend schon. Und nirgends eine Ambulanz, kein Rettungs-Heli. Richtige Kerle – brave Kerle. Erst nach vielen tausend Jahren schwante einmal einem Ingenieurstyp unter ihnen, dass man an der Jagdwaffe vielleicht auch etwas ändern konnte. Indem man den Faustkeil an einem Schaft befestigte. Es wurde seine grösste Innovation, eine der ganz wenigen. Fortan nutzte er den Speer zur Jagd, um besser zuzustossen, musste sich dafür aber nach wie vor bis in die Fänge der Bestie begeben, die er erlegen wollte. Es blieb ein Kampf Auge in Auge.
Und dann tauchte plötzlich dieser fremde Schnösel auf! Nach 150 000 Jahren Einsamkeit des Neandertalers. Dieser Viel- und Kunstschnorrer, der während der Jagd Frau und Kind in seiner Höhle liess.
Der erste Macho und Patriarch, der in der Höhle an gewissen Tagen unverständlichen Hokuspokus trieb. Dieser Geck mit albernem Schmuck um den Hals und eng am Körper liegender Kleidung. Höher gewachsen, mit mehr Personal unterwegs, auch mehr zu Besuch bei anderen, aus Afrika eingewandert: dunkelhäutig, dunkles Haar und dunkle Augen ...
Der Homo sapiens.
Und plötzlich bekam der Neandertaler einen Speer in die Brust. Einen Speer aus dem Gebüsch, von einem verdeckten Gegner.
Nicht gestossen, wie es seine Technik war, sondern geworfen. Mit einer Spitze aus Knochen oder Geweih, statt aus gekeilten Steinen. An der Wunde litt der Neandertaler, genannt Shanidar Nr. 3, noch lang. Mit höllischen Schmerzen, gepflegt von den anderen in der Gruppe, wie man das bei seinesgleichen gewohnt war, um am Schluss dennoch dem Anschlag zu erliegen.
Waren sie die Guten? Beschränkte Rudelkameraden, einfache Rudelfürsorger, keine Individualisten und Finsterlinge. Kraftwürfel ohne bösen Ehrgeiz, ohne Religion, Machtdurst und Tücke? Wurden sie einfach gelinkt von Kulturschlaumeiern?
Irgendwie kommt es einem vor, als seien da, vor rund 30 000 Jahren, die faireren Spieler aus dem Spiel genommen worden. Obwohl sie sich nur anpassten, nicht eroberten.
Und weiter: Wären wir heute, als Nachfahren des Neandertalers, statt als Urururenkel des Homo sapiens, bessere Menschen? Wir hätten keine Kathedralen, keinen Hamlet. Aber auch kein Senfgas, keine chirurgischen Bomben. Der Teufel trüge nicht Prada, nur Pelz und Keule.
«So kommen wir nicht weiter», sagen Thomas Wynn und Frederick L. Coolidge an einer vergleichbaren Stelle ihres Buches «Denken wie ein Neandertaler».
Die beiden Autoren (der erste Anthropologe, der zweite Verhaltensgenetiker und Psychologe, beide an der Universität Colorado) tun freilich eben dieses: vergleichen.
Sie spiegeln unser Gesicht an jenem des Neandertalers, messen Gene wie Gehirne und fragen: Gesetzt, ein Neandertaler würde ins Jahr 2013 gebeamt – könnte er bestehen? Aber auch umgekehrt: Wie würde sich ein Homo iPhonicus unter Neandertalern metzgen?
Gleich dazu: ziemlich kläglich, und sei er noch so fit. Gegenüber einem Neandertaler bliebe er ein Milchbubi, das gar nichts vertrüge. Seine tollen Daddelkünste am Computer, sein Schneid am Bartresen wären vergebens, wo er sich nicht auszeichnete im einzigen Beruf, der einem Neandertaler offenstand: Grosswildjäger.
Die vielen taktischen Manöver, die ein Neandertaler mit seiner hoch entwickelten, kognitiven Fähigkeit alle intus hatte, könnte sich der moderne Macker gar nicht merken mit seinem zwar hellen, aber im Vergleich zum Schädel des Neandertalers kleineren Kopf.
Umgekehrt fände sich der Neandertaler zurecht im Hier und Jetzt. Nicht überall. Aber dort, wo Anpassungsfähigkeit, Zähigkeit und pragmatischer Verstand gefragt sind. Er wäre, so vermuten die Buchautoren Wynn und Coolidge, ein hervorragender kommerzieller Fischer, von der Krabbe bis zum Wal.
Seine Kenntnisse über die Fanggründe wären enzyklopädisch, seine taktische Fähigkeit erstaunlich. Sogar als Arzt oder Flugkapitän würde der Neandertaler nicht abstürzen.
Im Militär, als Soldat oder Wachtmeister einer überschaubaren Truppe, wäre niemand geeigneter, im Nahkampf niemand effektiver. Erst wenn der Gegner Finten ersinnt oder Fallen stellt, wäre er aufgeschmissen.
Ein Neandertaler wäre keine Horrorfigur. Sähen wir einen an der Bushaltestelle stehen, sagen die Buchautoren, würden wir ihn zuerst gar nicht als Neandertaler erkennen und es darum auch nicht vorziehen, aus Vorsicht lieber zu Fuss zu gehen.
Am gutmütigsten ist der Neandertaler als Familienmensch. Treu und liebevoll als Ehepartner. Er würde kaum je die Familie zugunsten des Berufes opfern; zu Hause fühlte er sich am wohlsten.
Freilich redet er nicht allzu viel mit der Frau und liesse den Seinen auch nicht allzu grosse Freiräume, weil er sie immer um sich haben möchte. Partys und Besuche bei anderen meidet er. Er wäre tendenziell fremdenfeindlich und leichtgläubig. Er würde sich jede faule Karre andrehen lassen.
Und all das liest man aus den paar alten Knochen und einem Haufen behauener Steine?
Wir haben bis hierher etwas den Stil der amerikanischen Gelehrten im Buch nachzuahmen versucht. Bis hin zu den eingestreuten albernen Witzchen.
Die Ambulanz vorhin und der Rettungs-Heli sind zwar unser Einfall. Aber den folgenden Satz verantworten die Buchautoren: «Wir nehmen nicht an, dass die Neandertaler Stiere ritten oder Willie Nelson hörten, während sie in zerbeulten alten Pick-up-Trucks herumfuhren.» Solche Flapsigkeiten halten vielleicht amerikanische Studenten bei der Stange, aber auch Leser?
Die Scherzchen wären gar nicht nötig gewesen. Es gelingt den beiden Autoren mühelos, uns den Neandertaler nicht nur als Sympathiefigur näherzubringen, sondern tatsächlich unsere Fantasie so weit zu beleben, dass daraus auch eine gewisse Empathie wird.
Eine exakte Fantasie, muss man sofort anfügen. Thomas Wynn und Frederick Coolidge bleiben Wissenschafter. Was sie sagen, begründen sie mit Analysen der Funde, mit Thesen und Beobachtungen vieler anderer Spezialisten, mit kognitiven Theoremen.
Wir sind als Zeitungs-Allrounder nicht in der Lage, alle diese Belege zu überprüfen. Ein Glossar, ein Register und ein Quellenverzeichnis werden denjenigen, der sich dem Thema vertieft widmen will, sicher weiterführen.
Romanhaft ist das Werk also keinesfalls. Dafür garantiert auch der Verlag. Er hat sich auf Publikationen spezialisiert, die, ohne je populär-wissenschaftlich zu werden, Wissenschaft verständlich vermitteln.
Es bleibt jedoch zu fragen, mit Blick auf das Porträt des Neandertalers, ob es wirklich so oft nötig gewesen wäre, unsere Vorstellungskraft anzuregen, zu reizen, ja zu fordern? Oder ob man nicht etwas mehr darauf hätte vertrauen dürfen, dass jeder im Porträt des Neandertalers unweigerlich das Porträt des Menschen sucht, also auch sein eigenes.
Denn so triumphal der moderne Homo sapiens dann Europa auch zu seinem Terrain machte – nichts garantiert, dass er am Ende nicht um einiges flüchtiger da gewesen sein wird als der brave Neandertaler.