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Deutschland

Sie reden von Frieden und haben Angst vor ihrer Gasrechnung: Steht Ostdeutschland am Beginn einer grossen Radikalisierung?

Auf den Strassen Leipzigs regieren Wut und Trotz. Ob man sich auf einer rechten oder einer linken Demonstration befindet, ist manchmal schwer zu sagen. Doch für die Demokratie könnten viele, die dieser Tage durch ostdeutsche Städte laufen, verloren sein. 
Enttäuscht von der Demokratie: Manche Demonstrationsteilnehmer sehen sich um die Früchte der Friedlichen Revolution von 1989 betrogen. 
Bild: Benedict Bartsch / Imago

Nimmt man die Anzahl der Demonstrationen als Gradmesser für die Stimmung im Land, kündigen sich in Leipzig unruhige Zeiten an: Nicht weniger als sieben Kundgebungen hat das Ordnungsamt der sächsischen Grossstadt für diesen Montagabend Mitte Oktober genehmigt. Oft lassen die Parolen kaum Rückschlüsse auf den weltanschaulichen Hintergrund zu: «Sachsen braucht eine bessere Politik!» und «Ihre Krise nicht auf unserem Rücken!», lauten zwei Slogans, die vieles offenlassen.

Was die Bürger auf die Strasse treibt, ist nicht immer leicht zu sagen: Der Krieg in der Ukraine und steigende Energie- und Lebensmittelpreise spielen sicher eine Rolle, aber auch die Coronamassnahmen. Ein diffuser Unmut ist da, der sich immer neue Gegenstände für seine Empörung zu suchen scheint. Mal sind es Einwanderer, an denen man sich stört, dann ist es die Maskenpflicht, nun sind es Waffenlieferungen. Deutsche Kommentatoren schauen wieder einmal besorgt auf den Osten des Landes.

Dass manche Sachsen als hinterwäldlerisch ansehen, befeuert den Trotz

Die grösste Kundgebung, die an diesem ungewöhnlich warmen Oktoberabend auf dem zentralen Augustusplatz beginnt, steht unter dem Motto «Leipzig steht auf für Frieden, Freiheit und Demokratie! Sofort Nord Stream 2 öffnen!» Man könnte es sich nun leicht machen, und die Teilnehmer, die nach russischem Gas rufen, ins rechte Spektrum einordnen. Tatsächlich muss man bei näherer Betrachtung daran zweifeln, ob den Protesten mit den üblichen Etikettierungen beizukommen ist.

Man sieht hier rote Sterne und russische Fahnen, einige machen sich den Slogan «Schwerter zu Pflugscharen» zu eigen, den einst die DDR-Friedensbewegung verwendete; «Ami, go home!» steht auf einem Transparent, ein weiteres zeigt den deutschen Kanzler als Marionette des amerikanischen Präsidenten. «Die Russen wollen doch nur die eigene Bevölkerung im Donbass schützen», behauptet ein Rentner mit schwerem sächsischem Akzent. Auf seinem T-Shirt ist Karl Marx zu sehen.

Es ist auch eine Konfrontation zwischen einem studentischen und einem eher kleinbürgerlichen Milieu: eine linke Gegenkundgebung in Leipzig.
Bild: Sebastian Willnow / DPA

AfD-Fahnen sieht man dagegen keine, deutsche Flaggen auch kaum, dafür ist die Fahne des 1918 untergegangenen Königreichs Sachsen um so präsenter. Dass Sachsen in Berlin, Hamburg oder München manchen als hinterwäldlerisch gilt, befeuert hier einen trotzigen Regionalismus. Ist die Fahne ein Code? Seit einiger Zeit macht eine Splitterpartei namens «Freie Sachsen» von sich reden; sie steht noch weiter rechts als die AfD.

Die meisten Teilnehmer wirken bieder und unauffällig

Es gärt schon lange in dem Bundesland im Südosten Deutschlands: 2014 begannen in der Landeshauptstadt Dresden Bürger unter dem Motto «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlands» (Pegida) aufzumarschieren. Der Vergleich zwischen damals und heute liegt nahe, doch ist es ein anderes Publikum, das hier auf die Strasse geht, auch wenn es Überschneidungen geben dürfte: Skinheads und stiernackige Männer aus dem Kampfsportmilieu sind in Leipzig keine zu sehen. Die meisten Teilnehmer wirken bieder und unauffällig.

Dass die Organisatoren sich auf die Leipziger Montagsdemonstrationen von 1989 berufen, die das Ende der DDR einleiteten, ärgert manche in der Stadt. «22 ist nicht 89: Wir leben in keiner Diktatur», heisst es in einem Aufruf aus Kirchenkreisen. Die Demonstranten auf dem Augustusplatz ficht das nicht an. «2022 ist viel schlimmer als 1989», behauptet eine Rednerin. «Wer war 89 auch schon da?», fragt sie und fügt hinzu: «Bitte die linke Hand heben, die rechte ist manchmal nicht so günstig.» Nicht wenige melden sich; angesichts des fortgeschrittenen Alters vieler Teilnehmer wirkt ihr Votum durchaus glaubwürdig.

Der Demonstrationszug, der aus mehreren tausend Teilnehmern bestehen dürfte, setzt sich in Bewegung. «Frieden schaffen ohne Waffen», rufen die Teilnehmer nun. Nach einigen hundert Metern, auf der Höhe des Leipziger Rathauses, treffen sie auf die ersten Gegendemonstranten, junge Leute aus der linken Szene der Stadt. «Lauft mit Nazis Hand in Hand, ihr seid nicht der Widerstand!», rufen diese und zeigen den gestreckten Mittelfinger.

Es ist auch eine Konfrontation zwischen einem studentisch geprägten und einem eher kleinbürgerlichen Milieu: «Wenn das Licht ausgeht gibt’s kein links und kein rechts mehr, aber Antifa haben ja Papi und Mami», höhnt ein Rentner. Zu einem Dialog zwischen den beiden Gruppen kommt es nicht, zu Handgreiflichkeiten auch nicht, denn ein grosses Polizeiaufgebot schirmt die beiden Kundgebungen voneinander ab.

Auf die Frage, warum er hier sei, antwortet ein linker Gegendemonstrant: «Man muss doch was machen.» Was er von den Teilnehmern der anderen Kundgebung halten soll, weiss er auch nicht so recht. «Das sind halt irgendwelche Verschwörungstheoretiker», meint er. «Genau kann ich das auch nicht sagen, da müssen sie andere fragen.»

Manche zweifeln an den russischen Verbrechen in der Ukraine

Sebastian Feydt.
Bild: zvg

Sebastian Feydt ist einer der Unterzeichner des Aufrufs «22 ist nicht 89». Am Nachmittag vor der Kundgebung sitzt er in einem Café vor der Thomaskirche, in der einst Johann Sebastian Bach als Kantor wirkte. Feydt, ein 57-jähriger, deutlich jünger wirkender Pfarrer, war 1989 selbst mit dabei, als die Leipziger gegen das DDR-Regime protestierten. «Dass nun behauptet wird, es wäre heute wieder wie damals, muss ich mir nicht gefallen lassen», sagt er. «Gäbe es heute wieder einen Umsturz, ginge dieser gegen die Demokratie.»

Feydt ist auf dem Sprung: Am nächsten Tag reist er nach Minneapolis, um lutheranische Glaubensbrüder zu treffen. Vielleicht würden ihn die Amerikaner dann auch danach fragen, was nun in Leipzig los sei, meint er und macht sich an einen Erklärungsversuch: «1989 wollten die meisten eher persönliche Freiheit als Demokratie. Sie sahen den Preis der Freiheit nicht. Aber Demokratie braucht Übung, man muss sich darauf einlassen.»

Rund 120'000 Menschen demonstrierten am 16. Oktober 1989 in Leipzig für einen demokratischen Wandel in der DDR. Dass sich die Organisatoren der heutigen Kundgebungen auf die damaligen Montagsdemonstrationen berufen, empört viele in der Stadt.
Bild: AP

Die SED habe 1989 über zwei Millionen Mitglieder gehabt, sagt Feydt. «Was die Partei lehrte, gab nach der Wende eine Generation an die nächste weiter.» Über sowjetische Verbrechen sei in der DDR geschwiegen worden. Nun zweifelten manche an den russischen Verbrechen. Ob man sich nun auf einer rechtsradikalen oder auf einer linken Demonstration befinde, sei oft schwer einzuschätzen. «Als Schüler in der DDR wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass sich rechte und linke Positionen ähneln können. Nun wandern manche Wähler von ganz links nach ganz rechts.»

Manche stehen womöglich erst am Anfang ihres Wegs in die Radikalisierung

Bevor er zurück nach Leipzig kam, wirkte Feydt als Pfarrer in der Dresdner Frauenkirche. In Dresden hat er auch die Pegida-Kundgebungen beobachtet. Manches, was ihm damals auffiel, dürfte auch für die heutigen Demonstrationen gelten: «Bei einigen Demonstranten fehlt es auch an Herzensbildung», sagt er. So habe er bei Pegida «eine grosse Ich-Bezogenheit» beobachtet: «Eine Frau sagte mir, sie mache sich grosse Sorgen um sich selbst. Viel mehr kam dann nicht, als ich nachfragte.»

Vielleicht ist das auch der Schlüssel zu den Motiven der heutigen Demonstranten: Sie machen sich Sorgen um ihre Gasrechnung oder ihren Arbeitsplatz und überhöhen ihre Furcht, indem sie von Frieden und Freiheit sprechen. Ob hier etwas Gefährliches heranwächst, dürfte davon abhängen, wie sich die politische Lage entwickelt: Links- und Rechtsradikale machten zusammen fünf Prozent der Bevölkerung aus, schreibt das Meinungsforschungsinstitut Allensbach in einer Studie, doch weitere 23 Prozent liessen sich als «ausgeprägt Linke und Rechte mit autoritären Zügen im Denken» einstufen. Vielleicht stehen manche der Demonstranten erst am Anfang ihres Weges in die Radikalisierung.