
Worum geht es bei dem Berufungsprozess?
Der zweitinstanzliche Prozess in Sachen Pelicot findet nicht mehr in Avignon, sondern in Nîmes statt. In erster Instanz hatten sich im letzten Jahr noch 51 Männer in dem Gerichtssaal gedrängt. Dominique Pelicot, der die Gewaltakte über die Webseite coco.fr organisiert und seine Frau mit Schlaftabletten betäubt hatte, erhielt 20 Jahre Haft, die übrigen Angeklagten zwischen drei und 15 Jahren. Siebzehn Verurteilte legten Berufung ein. Fast alle zogen sie aber zurück.
Bis auf einen: Der 44-jährige Bauarbeiter Husamettin D., der neun Jahre Haft erhalten hatte, bestreitet jede Vergewaltigungsabsicht. Dominique Pelicot habe ihn zum «Liebesspiel» eines libertären Paares mit vorgetäuschtem Schlaf eingeladen. An Vergewaltigung will D. nie gedacht haben, weshalb der strafrechtliche Vorsatz gefehlt habe. Frauenverbände sehen in dem Verhalten ein Indiz für das verbreitete Gefühl der Straflosigkeit gewalttätiger Männer.
Warum muss Dominique Pelicot trotz seinem Berufungsverzicht erscheinen?
Der heute 72-Jährige hat keine Berufung eingelegt, um, wie er sagte, seine Frau nicht weiter zu belasten. In Nîmes muss er als Zeuge antreten. Zudem wird gegen den Ex-Gatten von Gisèle Pelicots in zwei Fällen wegen Mordes und Mordversuch ermittelt. 1991 soll er im Raum Paris eine Immobilienagentin vergewaltigt und umgebracht haben. Am Tatort wurde Pelicots DNA gefunden, worauf er die Tat gestand. 1999 griff er bei einem Wohnungsbesuch erneut eine Agentin an; als eine Drittperson hinzukam, suchte er aber das Weite. Wann diese Fälle vor Gericht kommen, steht noch nicht fest.
Wie geht es Gisèle Pelicot zehn Monate nach dem ersten Prozess?
Gisèle Pelicot hat sich seit dem erstinstanzlichen Urteil im vergangenen Dezember weitgehend aus der Öffentlichkeit und auf eine Atlantikinsel zurückgezogen. Dafür schreibt sie mit einer bekannten Journalistin ihre Memoiren. Sie sollen im Januar erscheinen. Auch wenn Medien wie «Time» oder «Financial Times» die heutige Feminismus-Ikone auszeichneten, gab sie keine Interviews; zahlreiche Einladungen an Tagungen lehnte sie ab. Nur einen Verdienstorden der Ehrenlegion sowie den Freiheitspreis der Stadt Caen nahm sie an. Zur Entgegennahme delegierte sie ihren Sohn Florian. Als die Illustrierte «Paris-Match» Fotos von ihr und ihrem Lebenspartner Jean-Loup auf der Insel Île-de-Ré publizierte, reichte sie Klage wegen Verletzung der Privatsphäre ein. Sie erhielt 40'000 Euro Schadenersatz, den sie an gemeinnützige Organisationen überwies.
Warum ist die Familie Pelicot heute in zwei Fraktionen gespalten?
Zwischen Gisèle Pelicot und ihrer Tochter Caroline haben die latenten Spannungen des ersten Prozesses zum offenen Bruch geführt. Caroline Darian war von ihrem Vater im Alter von rund zehn Jahren schlafend – wenn nicht eingeschläfert – und auffälligerweise mit fremder Nachtwäsche fotografiert worden, so wie er es mit Gisèle gemacht hatte. Bei dem Prozess im vergangenen Jahr behauptete Caroline, sie sei von ihrem Vater zweifellos auch missbraucht worden. Ihre Mutter schwieg zu diesem Vorwurf, und Caroline warf ihr darauf vor, sie verteidige insgeheim ihren Ex-Mann. Einmal habe ihre Mutter zu ihr gesagt, er wäre zu diesen inzestuösen Handlungen «nicht fähig» gewesen.
Caroline erklärte später, sie könne ihrer Mutter «nie verzeihen», dass ihr diese in der Gerichtsverhandlung die Unterstützung verweigert habe. Sie habe sie damit «verlassen». «Wir haben keinen Vater und keine Mutter mehr», sagte Caroline Darian, 46, gegenüber der Londoner Zeitung «Telegraph». Ihr älterer Bruder David stellt sich demonstrativ hinter sie; der jüngere Florian hält hingegen zu seiner Mutter.
Hatte der Pelicot-Fall gesellschaftliche Folgen in Frankreich?
Frauenverbände halten die meisten Urteile weiterhin für zu mild, räumen aber ein, der Prozess habe insgesamt die Einsicht gefördert, die Schande müsse die Seite wechseln – also von der vergewaltigten Frau auf den Täter. Ein hängiges Gesetzesprojekt verlangt in Frankreich eine klarere Einwilligung zum Sex und verschärft die Strafen für sexuelle Gewalt. Vergewaltigungsopfer können neu schon auf der Notfallstation eines Spitals Anzeige erstatten; die Polizei muss sie dort aufsuchen. Die rasche Beweisaufnahme ist gerade bei Betäubungen durch Schlafmittel, Drogen oder K.-o.-Tropfen entscheidend. Dafür kämpft vor allem die Pelicot-Tochter Caroline mit ihrem Verein #Mendorspas (Schläfere mich nicht ein).
Ähnliche Prozesse haben sich in Frankreich in diesem Jahr gehäuft. In Le Mans stand ein Mann vor Gericht, der seine Frau mit Alkohol bis zur Bewusstlosigkeit abfüllte und dann Videos der nackten Frau erstellte. In Aix-en-Provence gestand ein falscher Hypnotherapeut, Patientinnen eingeschläfert und vergewaltigt zu haben. Beide Urteile stehen aus.