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Bildung

Schule als Angstzone: Kinder bleiben dem Unterricht notorisch fern – so wollen Lehrpersonen das Problem lösen

Das Phänomen heisst Absentismus und macht sich zunehmend an Schweizer Schulen breit. Mit verschiedenen Massnahmen will der Verband der Lehrerinnen und Lehrer Gegensteuer geben. Eine wichtige Rolle spielt die Früherkennung.
Nicht alle fühlen sich im Klassenzimmer wohl: eine Jugendliche auf dem Weg zur Schule.
Bild: Symbolbild: Getty

Sie erfindet immer neue Ausreden, fehlt zu Beginn des Schuljahres regelmässig, und die Eltern stärken der Oberstufenschülerin aus dem Kanton Zug dabei auch noch den Rücken. Doch ihr Lehrer reagiert richtig, kontaktiert die Eltern, zeigt Verständnis und Geduld, schaltet die Schulleitung und den schulpsychologischen Dienst ein und übt wohlwollenden Druck aus.

Die Bemühungen ziehen während eines ganzen Schuljahres hin und fruchten: Die junge Frau besucht wieder die Schule. Sie lernt nicht mehr zusammen mit ihrer Klasse, sondern in einem separaten Raum. Regelmässige Termine mit der Schulsozialarbeiterin und einem Psychotherapeuten haben sie stabilisiert.

Es ist ein Beispiel, mit dem Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH), am Donnerstag an einer Pressekonferenz die Problematik des Absentismus erläutert. Wenige Tage vor dem Schulstart schlug der Verband Massnahmen vor, um dem Phänomen entgegenzutreten. So sollten die Schulen zum Beispiel ein Frühwarnsystem installieren und Buch führen über die Absenzen der Schülerinnen und Schüler, um das Problem zu erkennen. «Es braucht klare Regeln, was bei häufigem Fehlen zu tun ist und wer dafür zuständig ist», sagte Rösler.

Wichtig sei es auch, Lehrpersonen, Eltern und Fachleute wie Schulpsychologen zu befähigen, erste Warnzeichen zu erkennen. Dazu gehörten etwa Rückzug, ängstliches Verhalten oder häufige körperliche Beschwerden. In der Tat sind psychische Probleme und Angst – zum Beispiel vor Prüfungen, vor Mobbing und anderen schwierigen Situationen – der eigentliche Treiber des Absentismus. Rösler betont die zentrale Rolle der Schulen. Sie sollen schon nach wenigen Absenzen das Gespräch mit den betroffenen Kindern und den Eltern suchen. «Wir müssen ihnen aufzeigen, dass regelmässiges Fernbleiben nicht toleriert wird.»

Unklar ist, wie viele Kinder und Jugendliche in der Schweiz dem Klassenzimmer trotz Schulpflicht notorisch fernbleiben. Einen Hinweis gibt die Gesundheitsbefragung der Stadt Zürich aus dem Jahr 2022/2023. Demnach lassen 5 bis 7 Prozent der Oberstufenschülerinnen und -schüler den Unterricht mehrmals in voller Absicht sausen.

Mit dem Thema vertraute Personen stellten einen Anstieg des Phänomens fest, wobei die Coronapandemie als Brandbeschleuniger gewirkt hatte. Rösler sagte, sie kenne kaum eine Lehrperson, die noch nie mit der Problematik konfrontiert gewesen sei. Stephan Kälin von der Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie ergänzte: «Die Zahl der schulabsenten Kinder stieg in den letzten Jahren merklich an.» Es passt ins Bild, dass letztes Jahr auf Nachfrage der «NZZ am Sonntag» mehr als die Hälfte der Kantone von einem gefühlten Anstieg der Fälle berichtete. Die Problematik manifestiert sich vom Kindergarten über die Primarschule bis hin zur Oberstufe.

Nicht so dramatisch werten Experten gelegentliches Schwänzen, eine spontane Unlust, weil man vielleicht lieber den Siegeslauf von Marco Odermatt live am Fernsehen mitverfolgt, statt französische Verben zu konjugieren.

Die 3-6-Regel soll es richten

Den Lehrerinnen und Lehrern schwebt im Kampf gegen den Absentismus ein koordiniertes Vorgehen vor. «Heute stellt jeder Kanton ein Dispositiv auf mit unterschiedlichen Prioritäten. Es braucht einen nationalen Rahmen», sagte David Rey, Präsident der Westschweizer Lehrerinnen und Lehrer. Als positives Beispiel erwähnte er eine Schule der zweiten Chance in Lullin im Kanton Waadt. Sie nimmt jedes Jahr zahlreiche Jugendliche mit gröberen Problemen auf, unter anderem wegen Absentismus. Davon würden 80 Prozent wieder in reguläre Strukturen integriert.

Stephan Kälin plädierte für die flächendeckende Einführung der sogenannten 3-6-Regel, die zum Beispiel im Kanton St.Gallen seit mehr als etwa zehn Jahren zur Anwendung kommt. Die Regel besagt: Nach drei voneinander losgelösten Absenzen innerhalb von sechs Wochen muss die Schule die Eltern kontaktieren und erste Abklärungen vornehmen. Nicht in jedem Fall werde man Absentismus feststellen. Wenn doch, bestehe aber eine realistische Chance, chronischen Absentismus zu vereiteln. Ab einem gewissen Schweregrad werde es nämlich enorm schwierig, wieder einen regulären Schulbesuch zu ermöglichen.