«Martin! Martin!» rufen die Menschen auf einem Platz in Würselen. Es ist Donnerstagabend kurz nach 20 Uhr in der 38'000-Einwohner-Stadt nahe der holländischen Grenze. Auf der Bühne steht SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz. Etwa 300 Menschen sind gekommen, um bei Bier und Bockwurst dem Herausforderer von Kanzlerin Merkel beim Reden zuzuhören. Schulz spricht über Gerechtigkeit und verspricht, als Kanzler werde er aus Deutschland «ein besseres Land» machen.
Für Schulz war der Auftritt in Würselen ein Heimspiel, der warme Applaus hat ihm gutgetan. Bis Ende der 1990er- Jahre war der spätere EU-Politiker in der Kleinstadt Bürgermeister. Der als Heilsbringer der SPD Hochgejubelte will im Endspurt des Wahlkampfes die vielen Unentschlossenen dazu bewegen, am Sonntag die amtierende Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, Hannelore Kraft, zu unterstützen. Eine Abwahl der SPD-Regierung wäre für die Genossen verheerend.
2:0 für die Konservativen
Bereits zweimal, bei den Landtagswahlen im Saarland und in Schleswig-Holstein, hatte die SPD in den letzten Wochen gegen die CDU das Nachsehen. Ein Scheitern im mit 18 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Bundesland mit Grossstädten wie Dortmund, Essen, Duisburg, Köln und Düsseldorf wäre als Signal für die Bundestagswahlen im September fatal.
Nordrhein-Westfalen, kurz NRW, ist die Herzkammer der Sozialdemokratie, in den letzten 50 Jahren stellte die SPD mit einer Ausnahme stets den Ministerpräsidenten. Doch in jüngsten Umfragen sieht es ungemütlich aus für die seit sieben Jahren amtierende Hannelore Kraft. Ihre Regierung mit den Grünen hat keine Mehrheit mehr, und die CDU mit dem Merkel-treuen Kandidaten Armin Laschet rückt den Genossen auf die Pelle. Momentan sind beide Parteien ungefähr gleichauf. Noch vor wenigen Wochen lag die SPD acht Prozentpunkte vor der CDU. Der anfängliche Schulz-Hype hat auch in NRW nachgelassen.
Der Regierung Kraft halten CDU, aber auch die wiedererstarkte FDP (13 Prozent) und die AfD (6,5 Prozent) Versagen in Bildungs- und Verkehrspolitik und im besonderen Mass bei der inneren Sicherheit vor. Innenminister Ralf Jäger (SPD) werden Versäumnisse im Zusammenhang mit den Vorkommnissen während und nach der Silvesternacht von Köln vorgeworfen.
Attentäter reiste ungehindert
Schlechte Noten holte sich NRW auch im Umgang mit dem Berlin-Attentäter Anis Amri ab. Der Tunesier konnte von den Sicherheitsbehörden fast unbemerkt und trotz Einstufung als Gefährder ungehindert im Bundesland hin und her pendeln. Zudem ist die Salafistenszene in NRW stark ausgeprägt, hinzu kommen vergleichsweise hohe Einbruchsraten und Verschuldungen bei den Kommunen. Der Strukturwandel und das in den 1970er- und 1980er-Jahren eingeläutete Ende der Schwerindustrie (Stahl und Kohle) wurde an einigen Orten noch immer nicht abgefedert, die Arbeitslosigkeit liegt in NRW über dem westdeutschen Schnitt, in einigen Grossstädten ist sie gar zweistellig.
Die Wahlen im Bundesland mit über 13 Millionen Wahlberechtigten – etwa ein Fünftel aller deutschen Stimmbürger – sind der letzte Stimmungstest vor den Wahlen im September. Vielen gelten sie als die «kleinen Bundestagswahlen». Möglicherweise kann die SPD einen knappen Sieg dank der recht soliden Beliebtheit von Hannelore Kraft einfahren. Sie bemüht das «Wir-Gefühl», das im Ruhrgebiet verfängt, «Landesmutter» wird sie respektvoll genannt. Eine Mehrheit der Nordrhein-Westfaler würde Kraft Armin Laschet in der Staatskanzlei bevorzugen.
Dass die Genossen in NRW an Terrain einbüssen, liegt im bundesweiten Trend. Die Union aus CDU und CSU liegt einer jüngsten Umfrage zufolge wieder zehn Punkte vor der SPD (37 zu 27 Prozent), Kanzlerin Merkel erzielt deutlich höhere Beliebtheitswerte als ihr Widersacher Martin Schulz.