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Gastkolumne

Prämienschock? Bitte entspannen – Medizin ist uns nie teuer genug

Die Krankenkassenprämien dürften weiter ansteigen. Können wir es uns leisten? 
Steigen die Krankenkassenprämien auch diesen Herbst an? Das scheint so sicher wie das Amen in der Kirche. Nur die Höhe ist noch offen.
Bild: Bild: Keystone

Vermutlich plus sechs Prozent. Die Kosten steigen ungebremst. Dabei ist in der Gesundheitsbranche alles knapp. Notstand in der Pflege, bei Ärztinnen, in der Spitalkasse. Einzig Patienten sind üppig da. Derzeit rennen sie Arztpraxen ein. Weil wir nicht schlafen können. Weil diffuse Kopfschmerzen uns irritieren, da denken wir natürlich sofort (wie Google) an Hirntumor, wir fürchten, wir könnten am Ende noch sterben. Zur Sicherheit suchen manche gleich bei drei, vier Ärzten Trost und Rettung, schliesslich gibt es ja die «freie Arztwahl».

Das strapaziert die Kosten – und die Gesundheit. Wir geraten ins «Gesundheitsparadox», das der Harvard-Psychiater Arthur Barsky so definiert: «Wir leben stets gesünder – und fühlen uns immer kränker.» Wir achten penibel darauf, clean zu leben, dabei nehmen wir wahr: Praktisch nie sind wir total gesund. So wenig bedarf es, sich krank zu fühlen; ein Kratzen im Hals, ein Stechen im Kreuz, ein Pochen im Kopf, das stellt sich schnell ein, wenn der Schlaf knapp, das Leben fordernd, der Chef nervig ist. Aber ist das krank?

Dazu kommt: Die Medizin macht Fortschritte. Nicht dass der «Sieg über Krebs» naht. Die Schatten, die das Menschenleben wirft, werden wir wohl nie überspringen. Doch gerade die Krebsforschung ist ertragreich unterwegs. Ein Onkologe erzählt mir, noch vor fünfzehn Jahren habe er gedacht, er kenne sich in der Krebsmedizin aus, heute sei er froh, noch beim Lungenkrebs up to date zu sein.

Auf seiner onkologischen Abteilung beschäftigt er inzwischen fünf Kollegen mit Spezialistenstatus. Das heisst, immer mehr Krebsgeschwüre lassen sich immer besser behandeln. Sodass sich mit Vergnügen sagen lässt: Es sterben heute mehr Menschen mit dem Krebs als an ihm.

Klar, dass das auch immer aufwendiger ist, also mehr kostet. Forschung entwickelt sich nun mal durch Spezialisierung, also Diversifizierung. Auch unsere Lebenszeit wird weiter verlängert. Siehe David Sinclair («Das Ende des Alterns»): Leute, die 150 werden, leben bereits unter uns. Dank Fortschritten namentlich der epigenetischen Medizin. Auch nicht gratis. Schon weil wir für 150 Jahre etwas altmodisch konstruiert sind. Bis nur unsere Hüftgelenke merken, dass sie ein paar Jahrzehnte länger halten sollten, dauert es wohl noch eine Million Jahre, und bis dahin boomt zwangsläufig (nicht nur) die Reparaturmedizin.

Können wir uns dies alles leisten? Vertrackte Frage. Ganz neu das Dilemma: Medizin offeriert Therapien (Gentherapien, Crispr-Therapien) – und wir können sie nicht bezahlen. Die sind so sündhaft teuer (nicht weil die Hersteller Absahner wären), dass sie wohl nur für Milliardäre taugen. Spätestens hier geht der helvetisch beliebten Mogellösung – staatlich verbilligten Prämien – die Luft aus.

Delikat wird es sowieso. Medizin ist keine Dienstleistung wie andere. Sie steht im Zentrum der Verheissung der Moderne: dass unser Leben stets besser werde. Dass wir keine Götter brauchen, um erlöst zu werden. Früher war Medizin da, um Krankheiten zu heilen, so gut es halt ging. Heute ist sie für Miseren aller Art zuständig. Einst entschädigte die Aussicht auf Himmelsfreuden für irdische Strapazen.

Heute soll Medizin es richten. Medizin als Religionsersatz. Von ihr erwarten wir allerhand, nicht nur Therapie von Krankheiten. Reparaturservice bis zum Ende. Trost und Hoffnung, zum Beispiel Salbung von Verbitterungsgefühlen. Korrektur unpassender Körperlichkeit. Optimierung der Lebenslust. Kurz: Erlösung von allen Übeln. Medizin und Gesundheit als Restgötter der Zeit.

Können wir uns das leisten? Seit wann fragt man Religionen nach Kosten? Der Meisterstreich wäre natürlich: Freundschaft mit der Endlichkeit! Schmeckt aber nicht richtig modern, oder?

Ludwig Hasler ist Philosoph, Publizist und Buchautor.