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Interview

«Die russischen Drohungen zeigen Wirkung»: Warum Herfried Münkler glaubt, dass der Westen Putins Strategie ratlos gegenübersteht

Ein Waffenstillstand in der Ukraine sei nur zu erreichen, wenn der russische Präsident wisse, dass er auf hartnäckigen Widerstand stosse, sagt der deutsche Politologe. Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer wirft er Ahnungslosigkeit oder politische Frivolität vor.
«Wir haben es mit einer asymmetrischen Situation zu tun, die der Westen bewusst so belässt»: Ukrainische Soldaten beim Abfeuern von Luftabwehrmunition in der Nähe von Bachmut. 
Bild: Oleksandr Ratushniak/Reuters

Herr Münkler, Ende Januar haben Deutschland und die USA nach langwierigen Diskussionen entschieden, Kampfpanzer in die Ukraine zu schicken. Nun fordert Kiew die Lieferung von Kampfflugzeugen. Wäre damit die rote Linie überschritten, über die immer geredet wird?

Herfried Münkler: Es sind ja vor allem Journalisten, die über rote Linien reden. Die deutsche Regierung vermeidet den Begriff klugerweise, weil sie weiss, dass er die Politik ohne Not bindet. Wenn aber richtig ist, was immer gesagt wird, nämlich dass der russische Präsident Wladimir Putin die Eskalationsdominanz hat, kann man vieles nicht ausschliessen, weil der Westen immer auf russische Eskalationsschritte reagiert. Im Augenblick ist in der Luft wenig los; das Problem ist nicht, dass die Ukraine nicht genügend Kampfflugzeuge hat, sondern dass es ihr an Munition fehlt.

Manche fürchten, Flugzeug-Lieferungen würden zu einer Eskalation führen: Die Ukraine könnte dann Ziele in Russland angreifen. Müsste der Westen eine Lieferung an Bedingungen knüpfen?

Vermutlich hat man Waffenlieferungen auch bisher schon an Bedingungen geknüpft. Auch der Schützenpanzer Marder und der Leopard-Panzer sind schliesslich in der Lage, Grenzen zu überschreiten. Es ist aber klar, dass der Kampf am Boden, den wir derzeit sehen, in der Ukraine geführt wird. Wir haben es also mit einer asymmetrischen Situation zu tun, die der Westen bewusst so belässt, indem er der Ukraine entweder keine Waffensysteme gibt, die eine entsprechende Tiefenwirkung haben, oder indem er deren Lieferung mit Auflagen verbindet.

Ist es vernünftig, dass der Westen dieses Ungleichgewicht bestehen lässt?

Die russischen Drohungen zeigen jedenfalls Wirkung. Die Russen operieren konventionell und sichern dies ab, indem sie sagen, wenn ihr ernsthaft etwas dagegen unternehmt, müsst ihr damit rechnen, dass wir Nuklearwaffen einsetzen. Damit waren sie bisher erfolgreich. Der Westen steht dieser Strategie etwas ratlos gegenüber. Wenn sie wirkt, kann sie überall eingesetzt werden.

Rechnen Sie damit, dass der Westen letztlich Kampfflugzeuge liefern wird?

Das hängt davon ab, wie sich die Ukraine behauptet. Sollte es vermehrt zu russischen Luftangriffen kommen, könnte es sein, dass die Ukraine die Front nur noch halten kann, wenn sie entsprechende Flugzeuge hat. Falls der Westen klug ist, wird er den Russen klarmachen, dass er sich bei bestimmten russischen Schritten gezwungen sehen könnte, Kampfflugzeuge zu liefern. Das wäre dann eine Konditionierung mit dem Ziel, eine Eskalation von russischer Seite zu verhindern.

Wie sehen Sie die Panzerdebatte im Rückblick? Was motivierte den deutschen Kanzler Olaf Scholz zu einer Haltung, die bei Deutschlands Verbündeten auf einiges Unverständnis stiess?

Scholz hat getan, was die Deutschen immer getan haben, nämlich von hinten führen, also zu beobachten, was die anderen sagen, und dann zu versuchen, einen Kompromiss zu formulieren. Die Formel dafür heisst: keine deutschen Sonderwege. Dann stellte sich aber heraus, dass ganz viele Länder Panzerlieferungen forderten. Schliesslich kündigte die deutsche Regierung an, der Ukraine 16 ihrer modernsten Leopard-Panzer zur Verfügung zu stellen. Worauf sich herausstellte, dass eine ganze Reihe von Staaten, die bisher lautstark nach Panzern gerufen hatten, gar keine liefern wollten. Es zeigte sich also, dass Führen von hinten nicht funktioniert. In dieser Situation muss man von vorne führen.

Nun sieht es danach aus, als würde kein Land auch nur annähernd so viele Panzer liefern wie die Bundesrepublik. Ist das Bild von Deutschland als widerwilligem Unterstützer falsch?

Das kann man im Rückblick so sehen. Die Schreihälse sind jedenfalls leise geworden. So hat sich wieder einmal herausgestellt, dass Maulhelden keine richtigen Helden sind.

Steht Deutschland auch deswegen so im Fokus, weil man meint, Berlin durch moralische Vorhaltungen besonders unter Druck setzen zu können? Wegen ihrer Russland- und Energiepolitik der letzten Jahrzehnte haben die Deutschen nicht zu Unrecht ein schlechtes Gewissen.

Das mag eine Rolle spielen, wobei ich allerdings eher glaube, dass da Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg entscheidend sind: die Verheerungen auf der einen und die Schuld auf der anderen Seite. Beides wird sowohl von der Ukraine als auch aus dem Kreml heraus bespielt.

Die Amerikaner wollten zunächst keine Abrams-Panzer liefern, weil diese für einen Einsatz in der Ukraine schlechter geeignet seien als die deutschen Leopard-Panzer. War das ein stichhaltiges Argument?

Das ist eine schwierige Frage. Letzten Endes würde die amerikanische Argumentation darauf hinauslaufen, dass die Leopard-Panzer bei der Einsatzbereitschaft den Abrams-Panzern überlegen sind. Vielleicht haben die Amerikaner diesen Vergleich gescheut. Sie gingen wohl davon aus, dass der Einsatz in der Ukraine etwas anderes ist als ein Einsatz mit Unterstützung anderer Waffengattungen, etwa aus der Luft, wie es ihn zuletzt im Irak gab. Dann hat der amerikanische Präsident Joe Biden offenbar ventilieren lassen, ob die Russen bereit seien, im Austausch gegen territoriale Zugeständnisse in einen Waffenstillstand einzuwilligen. Als aus Moskau keine positive Reaktion kam, hat er sich entschlossen, Panzer zu liefern und damit die Deutschen unter Druck zu setzen.

«Vielleicht haben die Amerikaner diesen Vergleich gescheut»: ein Leopard-Panzer auf dem Bundeswehrstützpunkt in Munster.
Bild: Michael Sohn/AP

Manche in Deutschland fordern die unverzügliche Aufnahme von Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, etwa die Politikerin Sahra Wagenknecht, die Publizistin Alice Schwarzer und der Philosoph Jürgen Habermas. Sie meinen dagegen, für Verhandlungen sei derzeit nicht der richtige Zeitpunkt. Aber wann wäre dieser Zeitpunkt erreicht?

Verhandelt wird immer, sonst hätte es keine Getreidetransporte durch das Schwarze Meer und keinen Gefangenenaustausch gegeben. Allerdings muss man bei Verhandlungen wissen, was man erreichen will. Solange der russischen Seite nicht klar ist, dass sie ihr Maximalziel, die Zerschlagung der Ukraine, nicht erreichen kann, sind Verhandlungen über ein Ende des Krieges sinnlos. Zuerst müssen die Russen einsehen, dass die Durchsetzung ihrer Ziele entweder unmöglich ist oder ihnen einen Preis abverlangt, den sie nicht zu zahlen bereit sind. Dann müsste man noch die Ukrainer an den Verhandlungstisch bekommen, die sich von der Vorstellung verabschieden müssten, die Situation vor Ausbruch des Krieges oder gar ihre territoriale Integrität von 1991 wiederherstellen zu können.

Ist das realistisch?

Es wird nur möglich sein, wenn der Westen der Ukraine im Gegenzug weitreichende Sicherheitsgarantien anbietet. Aber das hiesse natürlich, dass die Europäer Kriegspartei wären, sollten die Russen ein weiteres Mal angreifen. Wären Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht ein wenig mit Kriegsverläufen vertraut, müssten sie ihrem Publikum sagen, dass wir dann Kriegspartei wären. In Wahrheit wollen sie jedoch, dass die Ukraine klein beigibt. Das ist Ahnungslosigkeit oder politische Frivolität.

Wie sehen Sie die Entwicklung Deutschlands seit dem Kriegsausbruch? Scholz hat eine Wende in der Militärpolitik verkündet, aber wird Deutschland in den kommenden Jahren tatsächlich gross aufrüsten?

Mit dem Wechsel im Verteidigungsministerium von Christine Lambrecht zu Boris Pistorius ist die Zeitenwende, die Scholz vor einem Jahr verkündet hat, gewissermassen operativ umgesetzt worden. Jetzt beginnt eine andere Gangart. Allerdings sollte man sich darüber im Klaren sein, dass sich damit in Europa einiges ändern wird. Deutschlands Position innerhalb der EU und auch der Nato bestand bisher darin, aus wirtschaftlicher Macht politische Macht zu generieren, aber nicht aus militärischer. Das ändert sich nun womöglich.

Und das könnte in Ländern wie Frankreich oder Polen alte Ängste auslösen?

Ich würde eher von Ressentiments als von Ängsten reden. Eigentlich sollte Deutschland nie wieder hinreichende militärische Fähigkeiten haben, um in Europa Ärger zu machen. Im Kalten Krieg wünschten sich die Franzosen, die deutsche Armee solle stärker sein als die Rote Armee, aber schwächer als die französische. Die deutsche Regierung hat solche Probleme im Blick und handelt entsprechend vorsichtig. Was die Herstellung einer ukrainischen Verteidigungsfähigkeit angeht, hemmt das natürlich die Bewegungsfähigkeit der Europäer.

So gesehen befindet sich Deutschland in einer tragischen Position: Seine Nachbarn erwarten mehr militärisches Engagement, fürchten dieses aber auch. Berlin kann es gar nicht richtig machen.

Das ist das Problem einer geopolitischen Lage in der Mitte eines Kontinents. Als Deutschland im Kalten Krieg ein Frontstaat war und ausserdem geteilt, stellte sich das anders dar. Jetzt hat Deutschland wieder die Probleme, die es seit dem 19. Jahrhundert hatte.

Ein Jahr Krieg in der Ukraine – 12 Bilder:

Das Problem des Landes, das im Verhältnis zu seinen Nachbarn zu gross ist.

Mit der alten Bundesrepublik, deren Bevölkerung und Wirtschaftskraft ungefähr gleich gross war wie diejenige Frankreichs, Grossbritanniens oder Italiens, ging das ganz gut. Jetzt ist der deutsche Beitrag zum EU-Haushalt ungefähr dreimal so gross wie der französische.

Bisher hat man versucht, das deutsche Problem durch die Einbindung in europäische Strukturen zu lösen. Wird das auf Dauer funktionieren?

Nur solange die USA präsent sind. Das ist die deutsche Rückversicherung gegenüber den anderen Europäern, die man ja auch in der Panzerfrage gesehen hat: Ihr müsst keine Probleme mit uns haben, weil wir uns immer noch als eine weithin abhängige Grösse von der amerikanischen Politik begreifen. Aber wenn man bedenkt, dass Sahra Wagenknechts Ehemann Oskar Lafontaine jetzt ein Buch mit dem Titel «Ami, it’s time to go» geschrieben hat, sieht man, wo die Gefahren eines von links wie von rechts kommenden Nationalprotektionismus liegen.

Blicken wir in die etwas fernere Zukunft: Wie könnte man Russland wieder in eine europäische Ordnung einbinden? Das war bereits nach dem Kalten Krieg die grosse Frage, bei deren Beantwortung der Westen nun erst einmal gescheitert ist. Aber Russland bleibt ja da.

Es bleibt da, und man wird wohl herausfinden müssen, ob die Russen weiterhin glauben, nur dann als Russland überleben zu können, wenn sie die Weissrussen und die Kleinrussen, wie sie die Ukrainer nennen, zu sich zurückholen können. Es handelt sich bei Russland um eine revisionistische Macht. Das war den Klügeren in der Szene schon seit Mitte der 1990er-Jahre klar, spätestens aber seit Putin 2005 verkündete, der Zerfall der Sowjetunion sei «die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» gewesen.

Wie aber könnte der weitere Umgang mit Russland aussehen?

Es gibt drei Möglichkeiten, revisionistische Mächte zu bändigen: Erstens durch Wohlstandstransfer. Die Deutschen haben damit nach 1945 gute Erfahrungen gemacht; es gab den Marshallplan und das Wirtschaftswunder, und keiner dachte mehr daran, Schlesien oder Hinterpommern zurückzuerobern. Gegenüber Russland ist dieses Konzept gescheitert. Das zweite Modell ist Appeasement: Man macht dem Revisionisten Zugeständnisse, so wie es Frankreich und Grossbritannien 1938 in München taten. Aber Hitler bekam beim Essen noch mehr Hunger. In gewisser Weise waren das Normandie-Format und das Minsker Abkommen Formen von Appeasement gegenüber Russland. Auch das wirkte nicht. Also bleibt nur die Abschreckung. Dieser Ansatz wird wohl die nächsten zwei Jahrzehnte dominieren, denn mit Putins Abgang dürfte das Problem kaum gelöst sein. Vielleicht würde es noch schlimmer, weil dann ein neuer Machthaber beweisen müsste, was für ein harter Typ er ist.

Kann es Frieden mit Putin geben? Zu einem normalen Umgang mit ihm wird der Westen kaum zurückkehren können.

Frieden im Sinne eines Friedensvertrags vermutlich nicht, aber einen Waffenstillstand muss man irgendwie hinbekommen, sonst ginge der Krieg ja endlos weiter. Aber das sollte man eben nicht tun, indem man bei Putin antichambriert, sich auf die Knie wirft und sagt, «Bitte, bitte, grosser Meister, gib uns Frieden», sondern indem man ihm klar macht, dass er mit seinen Zielen und Methoden auf hartnäckigen Widerstand stösst.

«Erdogan könnte sagen, was Putin kann, kann ich auch»: Die Staatschefs der Türkei und Russlands, hier im September 2022 auf einem regionalen Gipfeltreffen im usbekischen Samarkand. 
Bild: Alexandr Demyanchuk/AP

Aus Kiew heisst es immer wieder, die Ukraine verteidige ganz Europa. Will Putin tatsächlich mehr als jene Gebiete, die einmal sowjetisch waren?

Seine Trolle wie Alexander Dugin reden von einem Russischen Reich, das von Irland bis Wladiwostok reiche. Das muss man nicht unbedingt für bare Münze nehmen, zumal die russische Armee froh sein muss, wenn sie sich in der Ukraine einigermassen behaupten kann. Das Problem liegt wohl eher an anderer Stelle: Wo ein Putin ist, können weitere entstehen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan könnte sagen, was Putin kann, kann ich auch. Eine weitere revisionistische Macht ist Serbien als Verlierer der jugoslawischen Zerfallskriege.

Wenn Grenzen infrage gestellt werden, ist der Geist aus der Flasche ...

… vor allem, wenn es Beispiele dafür gibt, dass eine solche Politik Erfolg hat. So war es in den Dreissigerjahren, als Mussolini etwa in Abessinien damit anfing. Wenig später vollzog Hitler den Anschluss Österreichs, dann die Annexion des Sudetenlandes und im Frühjahr 1939 die Zerschlagung der Rest-Tschechei.

In der Schweiz wird seit Ausbruch des Krieges wieder einmal über die Neutralität diskutiert. Sie haben kürzlich bei einem Vortrag in Luzern erklärt, die Schweiz könne nur noch Entscheide anderer Länder nachvollziehen. Ist das Konzept der Neutralität überholt?

Ich verfolge die Schweizer Diskussion und sehe, dass der Neutralitätsbegriff gedreht und gewendet wird, bis man ihn doch noch in irgendeiner Weise applizieren kann. Die Neutralität ist heute eine nostalgische Reminiszenz an die glückliche Entscheidung der Schweiz, sich aus beiden Weltkriegen herauszuhalten. Was die Sicherheitspolitik angeht, ist die Schweiz Kostgänger der Nato. Manche Fragen wären ohne Neutralität leichter zu beantworten, etwa jene nach der Munition, die Deutschland nicht in die Ukraine schicken konnte, weil die Schweiz als Herstellerland keine Ausfuhrgenehmigung erteilte. So führt die Neutralität womöglich dazu, dass es bald keine Schweizer Rüstungsindustrie mehr gibt.

Ein Schweizer Diplomat sagte mir, die Deutschen hätten gar nicht um eine Ausfuhrerlaubnis bitten, sondern einfach liefern sollen. Wäre etwas öffentlich geworden, hätte Bern eine Protestnote gesendet und damit wäre die Sache erledigt gewesen.

Die Deutschen hätten also so tun sollen, als gäbe es in der Schweiz keine Rechtsbestimmungen und dann wäre alles gut gewesen. Das ist eine schlaue Antwort, aber es ist auch bigott.

Eine Empfehlung im Hinblick auf die Neutralität würden Sie der Schweiz aber nicht geben wollen?

Unter keinen Umständen, genauso wenig wie ich der Ukraine vorschreiben würde, wie lange sie diesen Krieg durchzuhalten hat. Ich kann nur die Lage beschreiben. Die Konsequenzen daraus müssen die Schweizer selbst ziehen. Sie können auch weiterhin Rosinenpicker bleiben, die geschützt werden, ohne etwas dafür zu geben. Das mag bequem sein, ist aber nur um den Preis von Einflusslosigkeit zu haben.