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BVG-Abstimmung

«Der linke Blocher»: Pierre-Yves Maillard hat die Bürgerlichen ins BVG-Debakel gestürzt

Die Linke gewinnt nach dem Ja zur 13. AHV-Rente mit dem Referendum gegen die BVG-Reform auch die zweite wichtige Abstimmung in diesem Jahr. Eine der treibenden Kräfte ist der Gewerkschaftsboss.
Pierre-Yves Maillard schaut im Berner Programm auf die Leinwand, auf der in wenigen Momenten die Resultate eingeblendet werden.
Bild: Keystone

Die Sterne stehen gut: «Sie surfen auf der Erfolgswelle.» Oder: «Sie machen grosse Quantensprünge in diesem Jahr und gehören zu den grossen Gewinnern des Jahres.» Und: «Sie haben einen richtig guten Lauf.» Das sind Ausschnitte aus dem Jahreshoroskop für das Sternzeichen Fisch. Pierre-Yves Maillard, geboren am 16. März 1968, ist Fisch.

Es hätte aber gar keine Blicke in die Kaffeesatzleserei der Astrologie gebraucht. Auch eine andere Branche, die sich gerne mit Prognosen beschäftigt, attestiert dem Gewerkschaftsboss und SP-Ständerat ein Hoch: «An ihm führt kein Weg vorbei» (SRF). «Er ist so mächtig wie noch nie» («Blick»). «Der wichtigste Linke der Schweiz» («Tages-Anzeiger»).

Seit seiner Rückkehr als Ständerat ins Bundeshaus vor fünf Jahren ist der ehemalige Waadtländer Regierungsrat und alt Nationalrat Pierre-Yves Maillard - wegen seiner Hemdsärmeligkeit auch schon als «linker Blocher» tituliert - unter besonderer medialer Beobachtung.

So auch am Sonntag. Es ist kurz nach halb 12 Uhr, als Maillard den Progr in Bern betritt. Hier treffen sich die Gegner und Gegnerinnen der BVG-Reform. Die Stimmung ist gelöst, der Sieg ist eigentlich noch Formsache. Bereits in den letzten Umfragen hatte sich ein solider Vorsprung für die Gegnerschaft abgezeichnet. Und trotzdem: Jetzt muss dann gleich gejubelt werden.

Eine pflichtbewusste Freude

Die Runde stellt sich viel zu früh vor der Leinwand auf, auf der die ersten Hochrechnungen projiziert werden. Nervosität ist keine spürbar. Maillard steht in der zweiten Reihe etwas abseits. Der Chef der Gewerkschaftskampagne versucht ihn noch mehr ins Zentrum oder zumindest in die erste Reihe zu rücken. Doch Maillard bleibt und lächelt. Der Balken zur BVG-Reform ist rot gefärbt. Ganz kurz wird gejubelt, dann geht es über in ein Klatschen. Es ist so mittelbeherzt. Als hätte im Fussball-Cup ein Super-League-Club einen unterklassigen Verein rausgekegelt. Eine pflichtbewusste Freude.

Der Ex-Nationalrat, Ex-Regierungsrat, Jetzt-Ständerat und Jetzt-Gewerkschaftsboss hat allen Grund zur gesteigerten Zufriedenheit. Mit dem erfolgreichen Referendum gegen die Pensionskassenreform ist den Linken 2024 bereits der zweite wichtige Sieg an der Urne gelungen. Der Auftakt war die gewonnene Abstimmung zur 13. AHV-Rente. Diese stammte aus der Küche des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), den Maillard seit 2019 präsidiert. PYM, wie er aufgrund seiner Anfangsbuchstaben auch genannt wird, war die Kühlerfigur im Abstimmungskampf. War sich um keine Schlacht zu schade: Trat auch im Albisgüetli auf und punktete selbst bei der SVP-Basis.

Die erste Reihe und die Positionen in der Mitte überliess er den anderen. Und trotzdem waren die Kameras auf Pierre-Yves Maillard (4. von rechts) gerichtet.
Bild: Keystone

Wer mit anderen Politikern über Maillard spricht, der spürt eine Mischung aus Bewunderung und Ehrfurcht, aber auch etwas Ablehnung. Der Machtmensch Maillard scheut sich nicht, Leuten auf die Füsse zu stehen. Er hat eine klare linke Linie, ist aber zu Kompromissen bereit, wenn er davon ausgeht, dass sie seiner Sache nützen. Das kommt gerade in dogmatischeren Kreisen nicht nur gut an. Auch sei er zuweilen etwas gar zu selbstbewusst. Gleichzeitig betonen mehrere, dass Maillard «sehr loyal» sei und stets mit offenen Karten spiele.

Das Scheinwerferlicht findet ihn selbst

Im Progr geht Maillard nicht gleich zu den zahlreichen Mikrofonen, die den Siegerinnen und Siegern hingehalten werden. Er geht nach hinten an ein Tischchen. Das Scheinwerferlicht überlässt er den anderen. Auch im Wissen, dass es ihn dann schon noch findet. Zweites Aufstellen vor der Leinwand. Nun folgen erste Zahlen. 69 Prozent Nein. Das ist eine Ohrfeige für den Bundesrat und die bürgerliche Mehrheit im Parlament. Aus dem Lächeln auf dem Gesicht von Maillard wird ein Strahlen.

Auch den Umgang mit Niederlagen kennt er: Im Dezember 2011 wurde Maillard der Sprung in den Bundesrat verwehrt. Bei der Ersatzwahl von Micheline Calmy-Rey unterlag er Alain Berset deutlich. Als es kürzlich darum ging, ebenjenen Berset zu ersetzen, nahm sich Maillard selbst aus dem Rennen. Er verwies auf seine Herkunft aus der Romandie (Elisabeth Baume-Schneider hatte kurz davor Simonetta Sommaruga ersetzt) und auch darauf, dass er nicht ausgerechnet mehrere Gewerkschaftsanliegen als Mitglied der Regierung bekämpfen wolle.

Da ist Maillard Realist: Im Bundesrat würde er mit seinen Positionen nur höchstselten Mehrheiten finden. Mit Initiativen, Referenden und Deals in den Räten hat die Linke mehr Gewicht. Auch in der Europafrage spielt Maillard eine gewichtige Rolle. Als Vertreter der Gewerkschaften kann er klare Forderungen stellen. Ohne den Support der Arbeitnehmervertretungen dürfte ein Abkommen kaum mehrheitsfähig sein.

Das Kollektiv und PYM

Genau dieses Gewicht geniesst der Mann offensichtlich. Kamerateam um Kamerateam drängt sich am Abstimmungssonntag um Maillard. Er wiederholt immer wieder die gleichen Sätze. Spricht sie aber immer mit derselben Dringlichkeit. Viele andere der Gewinnerinnen und Gewinner sind da längst abseits des Medienpulks am Apéro. Der Fokus gehört PYM. Er selbst schüttelt energisch den Kopf, als er gefragt wird, ob das sein persönlicher Erfolg sei. «Nein, das war ein Sieg des Kollektivs. Es brauchte jeden und jede», sagt er. Aber schon die Tatsache, dass ihm diese Frage gestellt wird, zeigt: Ohne ihn geht derzeit in der linken Politik nicht viel.

Ihm wird auch ein guter Draht in den Bundesrat nachgesagt. Und das nicht erst, seit Elisabeth Baume-Schneider in der Regierung sitzt. Ausgerechnet sie, die mal eine Katze von Maillard bekommen hat, musste nun gegen die Gewerkschaften antreten. Aber auch mit anderen Bundesräten pflegte Maillard engeren Austausch. Mit Karin Keller-Suter habe er sich gerade zu Beginn seiner Amtszeit als Gewerkschaftsboss regelmässig unterhalten. Mittlerweile sei dieses Verhältnis etwas erkaltet.

Im Welschland geniesst PYM eine enorme Popularität. Auch als einer, der Deals über die Parteigrenzen hinaus eingetütet hat. Legendär ist seine Zusammenarbeit im Waadtländer Regierungsrat mit dem damaligen FDP-Finanzdirektor Pascal Broulis. Das Duo erhielt den Übernamen «Brouillard et Malice» (Nebel und Schlauheit). Maillard funkte Broulis nicht in seine Wirtschaftspolitik, und dieser tolerierte im Gegenzug eine grosszügig ausgebaute Sozialpolitik.

Der Nachfolger von Dealmaker Rechsteiner

Nach dem Ja zur 13. AHV-Rente verdrückte Maillard gar eine Träne.
Bild: Keystone

Im bürgerlichen Bundesparlament ist es schwieriger für Gewerkschaftsanliegen. Sein Vorgänger beim SGB, Paul Rechsteiner, galt auch da als grosser Dealmaker, der hinter den Kulissen die Fäden zog. Maillard hat diesen Ruf nicht. Noch nicht. Was er sich spätestens am Sonntag erarbeitet hat, ist dagegen der Ruf als jemand, der mit Referenden und Initiativen die Deals der anderen korrigiert.

Noch ein drittes Mal Aufstellen zum Gruppenfoto. Und dann kurze Ansprachen. Auf der Bühne stehen Maillard, die SP-Spitze und Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone. Das erste Wort gehört Maillard. Eine tolle Kampagne sei es gewesen, ein Warnschuss an die Bürgerlichen, ein Zeichen für den Bundesrat. Applaus.

Kämpferisch sind auch die anderen Voten. Auf der Leinwand flimmert eine merkwürdige SRF-Serie über Nachhaltigkeit. Als man fertig ist mit dem gegenseitigen Loben und Klassenkämpfeln, schreiten alle von der Bühne. Jetzt ist Zeit zum Anstossen. Im allerletzten Moment greift Pierre-Yves Maillard noch einmal zum Mikrofon: «Bonne fête.»

Wer das letzte Wort hat, entscheidet, wo es lang geht.