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Historie

Nach dem «Wunder von Charkiv»: Die spektakulärsten Wenden der Kriegsgeschichte

Als «Wunder von Charkiv» wird die ukrainische Gegenoffensive im Osten bereits gefeiert. Ob sie tatsächlich zur vernichtenden Niederlage Russlands führen wird, ist noch offen. Denn die Kriegsgeschichte zeigt: Spektakuläre militärische Wenden kennen jeweils eigene Gesetze.

1759: Das Mirakel des Hauses Brandenburg

Preussenkönig Friedrich  wird bei Kunersdorf von russischen Kosaken verfolgt (Kupferstich von 1793)
Bild: Wikicommons

Preussenkönig Friedrich II. «der Grosse» verliert im Siebenjährigen Krieg die Schlacht von Kunersdorf und dabei fast seine gesamte Armee. Doch die siegreichen Österreicher und Russen streiten über das weitere Vorgehen und verpassen den Vormarsch auf die wehrlose Hauptstadt Berlin. König Friedrich bezeichnet dies in einem Brief an seinen Bruder als Wunder.

Später wird das «Mirakel des Hauses Brandenburg» auf den plötzlichen Tod der russischen Zarin Elisabeth 1762 umgedeutet. Ihr Nachfolger Peter III. löst das Bündnis mit Österreich auf und schliesst mit Preussen einen Separatfrieden, was für Friedrich II. die endgültige militärische Rettung bedeutet.

Zu wenig schmeichelhaftem Nachruhm kam diese Wende in den letzten Tagen von Nazi-Deutschland. In seinem Berliner Bunker eingeschlossen, fantasierten Hitler und sein Gefolge immer wieder von einer Wiederholung des preussischen Mirakels. Dies insbesondere befeuert durch die Todesnachricht von US-Präsident Franklin Delano Roosevelt gut einen Monat vor der bedingungslosen deutschen Kapitulation.

1914: Das Wunder an der Marne

Deutsche Soldaten an der Marne 1914
Bild: Wikicommons

Der von französischen Armeen und dem britischen Expeditionskorps gestoppte deutsche Zangenangriff auf Paris zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde in Frankreich nach dem Krieg zum Wunder an der Marne stilisiert. Aufgrund einer Reihe von Fehleinschätzungen und Missverständnissen verpasste es die deutsche Heeresleitung, den zu Beginn erfolgreichen Vormarsch durch Belgien mit der Eroberung der französischen Hauptstadt abzuschliessen.

Die erfolgreiche französisch-britische Gegenoffensive und der deutsche Rückzug sowie der anschliessende «Wettlauf zum Meer» führten schliesslich zur Erstarrung der Fronten und dem vierjährigen Stellungskrieg an der Westfront mit Millionen von unnötigen Opfern.

Auf deutscher Seite war mit dem Scheitern des berühmten Schlieffen-Plans der Krieg im Grunde bereits verloren, ohne dass es die Führung des Kaiserreichs wahrhaben wollte. Zum Sündenbock wurde in erster Linie der Generalstabschef Helmuth von Moltke gemacht und umgehend nach der Marne-Schlacht abgesetzt.

1920: Das Wunder an der Weichsel

Eine polnische Maschinengewehr-Stellung in Erwartung des sowjetischen Angriffs.
Bild: Wikicommons

Der hierzulande selten thematisierte Krieg zwischen Polen und der Sowjetunion im Zuge des Russischen Bürgerkriegs wurde im August 1920 in der Schlacht bei Warschau entschieden. Diese wird in Polen noch heute als «Cud nad Wisla», das Wunder an der Weichsel, bezeichnet.

Die schwächeren, nach ihren grossen Anfangserfolgen in die Defensive getriebenen polnischen Truppen unter dem späteren Diktator Marschall Jozef Pilsudski überraschten die vorstossenden Sowjets mit einem Gegenangriff südlich der Hauptstadt und zwangen diese unter schweren Verlusten zum Rückzug. Damit war die Angriffsmoral der Roten Armee gebrochen und der Weg frei zum Frieden vor Riga.

Dieser Vertrag sicherte 1921 Polen für weitere 18 Jahre die Unabhängigkeit - bis die Sowjets im September 1939 mit den deutschen Angreifern paktierten, den Polen nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in den Rücken fielen und diese bis zum Mauerfall 1989 und dem Ende der Sowjetunion dem kommunistischen Regime unterwarfen.

1940: Das Wunder von Dünkirchen

Britische Truppen warten am Strand von Dünkirchen auf ihre Einschiffung.
Bild: Imperial War Museum

Noch heute wird in der Militärhistorie leidenschaftlich darüber gestritten, weshalb Hitler seinen Panzern den berühmten «Halt-Befehl» erteilte und damit im Mai 1940 das Entkommen von rund 380'000 in Dünkirchen eingeschlossenen britischen und französischen Soldaten über den Ärmelkanal möglich machte. Eine Theorie lautet, dass er bloss seinen rebellierenden Generälen zeigen wollte, wer der Chef ist.

Der Fehlentscheid hatte weitreichende Folgen: In seinem Geschichtsformat «Im Lauf der Zeit» entwirft der Fernsehsender Arte sogar das «What-if»-Szenario, dass Panzergeneral Erwin Rommel 1957 bis zur Mongolei vorstösst, nachdem die Deutschen 1940 alle alliierten Soldaten bei Dünkirchen gefangen genommen haben, und deswegen die USA nie in den Zweiten Krieg eintreten.

Angesichts der Wirtschaftsmacht der USA ist ein solches Szenario äusserst unwahrscheinlich, selbst wenn die Wehrmacht den Kessel von Dünkirchen überrannt hätte. Aber nichtsdestotrotz hat die mehrmals in Filmen festgehaltene (zuletzt 2017 in «Dunkirk») wunderhafte Rettungsoperation Dynamo unzweifelhaft der britischen Moral einen ungeheuren Schub verliehen, den Kern des britischen Berufsheers bewahrt und nicht zuletzt den kompromisslosen Kriegspremier Winston Churchill an der Macht gehalten.