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Reportage

Zwischen Minen, verseuchtem Trinkwasser und drohendem Atom-Zwischenfall

Die Menschen in der Region Mykolajiw kämpfen mit den Folgen der Überschwemmung nach dem Kachowka-Dammbruch. Die beunruhigenden Nachrichten aus dem Kernkraftwerk Saporischschja überschatten den Wiederaufbau.
Menschen in der südukrainischen Stadt Nikopol versorgen sich mit Trinkwasser.
Bild: Bild: Anadolu/Getty

Die Sonne brennt vom Himmel auf die menschenleeren Strassen der Stadt. Sie zählte vor dem Krieg 12.000 Einwohner. Circa 5000 harren heute noch auf minenverseuchtem Land aus. Die Luft flirrt vor Hitze. Das Gras zwischen den Ruinen verdorrt.

Zumindest die grosse Flut nach dem Bruch des Kachowka-Staudamms am 6. Juni hat Snihuriwka in der Südukraine verschont. Sie liegt auf einer Anhöhe. Der Hügel glich in den Tagen nach dem Dammbruch einer Insel in braunen Fluten.

Eine Gruppe von Einwohnern steht unweit des Rathauses vor einem blauen Tank an. Die Menschen öffnen das Ventil und klares Wasser füllt ihre Milchkübel und Plastikflaschen. Die Fluten des Kachowka-Stausees flossen um Snihuriwka herum. Sie sickerten aber ins Erdreich ein.

Die Stadt Cherson nach der Flut.
Bild: Libkos / AP

Die Brunnen der Stadt fördern nur noch eine ungeniessbare Brühe zutage. Sie ist mit allem belastet, was die Flut nach dem 6. Juni auf einer nach ukrainischen Angaben 600 Quadratkilometer grossen Fläche mit sich riss: Öltanks, Industrieanlagen, Abwasserrohre, Kadaver und die Leichen von einer bis heute unbekannten Zahl an Ertrunkenen.

Bis zu 700'000 Menschen sind ohne sauberes Wasser

Swetlana Gertsun füllt gemeinsam mit ihrem Mann Oleksandr, Plastikflasche um Plastikflasche. Die Gertsuns waschen mit dem abgefüllten Wasser Wäsche und sich selbst. Sie benutzen abgepacktes Mineralwasser zum Trinken und Kochen. «Wir müssen alle drei Tage Wasser abfüllen und nehmen so viel mit wie möglich», sagt die 49-Jährige.

«Es gibt verschiedene Tanks in Snihuriwka. Freiwillige bringen Wasser hierher und die Verwaltung füllt die Tanks nach. Man muss nie lange anstehen», sagt Gertsun.

Jederzeit könnten in der Stadt Raketen einschlagen. Das Rathaus blieb bisher verschont. Ein Loch klafft wie ein offenes Maul auf der gegenüberliegenden Strassenseite im Dachstuhl eines Gebäudes. Die russischen Geschosse flögen inzwischen meist über die Stadt hinweg, tröstet sich Swetlana Gertsun.

«Wenn es Alarm gibt, bleiben wir trotzdem zuhause und holen kein Wasser», sagt sie. Die Sirene schrillt einen Augenblick später auf. Der Krieg sendet ein Zeichen, wie unberechenbar er ist. Swetlana Gertsun zuckt mit den Achseln. Was lässt sich schon planen in diesen Tagen?

Die ukrainische Regierung muss nach dem Bruch des Staudamms im betroffenen Gebiet Wasser verteilen. UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths schätzte die Zahl der Ukrainer ohne Zugang zu sauberem Wasser Mitte Juni auf 700.000.

Aber Wasser ist nicht gleich Wasser. Ein neuer Begriff hat sich im Katastrophengebiet herumgesprochen. Die blauen Tanks der Regierung liefern «technisches Wasser», heisst es. Es gilt als sicher zum Hände- oder Wäschewaschen. Zum Trinken eignet es sich nicht.

Die Bewohner in Orten wie Snihuriwka räumten in den ersten Tagen nach dem Dammbruch die Regale mit Mineralwasser in den Lebensmittelgeschäften leer. Kiew reagierte auf das Hamstern und schickte Laster voller Mineralwasserpaletten in das Flutgebiet. Niemand bleibt inzwischen mehr durstig. Aber Hunderttausende stehen täglich Schlange vor den Ausgabestellen für das «technische Wasser».

War der Dammbruch erst der Anfang weiterer Katastrophen?

Immerhin scheint die Cholera das Katastrophengebiet bisher verschont zu haben. Eine Ärztin in einem Regierungskrankenhaus in der Distrikthauptstadt Mykolajiw betont, dass bisher keine Zunahme von Durchfallerkrankungen erkennbar sei. Aber: «Wenn die Flut weiter zurückweicht und das restliche Wasser in Senken in der Hitze, wissen wir natürlich nicht, was sich noch entwickelt», sagt sie.

Doch es gibt eine Sorge, die noch grösser ist: Das von den Russen besetzte Atomkraftwerk Saporischschja ist weniger als 200 Kilometer entfernt. Die Verwaltung der Stadt veröffentlichte auf ihrem Kanal auf einem Kurznachrichtendienst am 30. Juni eine mit dem Strahlenwarnzeichen versehene Mitteilung. Die Bewohner sollten Lebensmittel und Trinkwasser für fünf Tage vorrätig haben und einen Raum möglichst luftdicht isolieren.

Das Atomkraftwerk Saporischschja bereitet in der Ukraine vielen Sorgen.
Bild: AP

Und die Nachrichten berichten von den Übungen des ukrainischen Katastrophenschutzes in einer 50-Kilometer-Zone um das Kraftwerk. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski warnt vor einem drohenden Anschlag auf das Kernkraftwerk. Die russischen Truppen sollten angeblich bis zum 5. Juli das Gelände der Anlage räumen.