Wird uns grad die Meinungsfreiheit abserviert? Einem französischen Weltraumforscher verweigern die USA die Einreise; auf seinem PC fanden sich Spuren kritischer Äusserungen zu Trump. In Zürich fällt eine Sängerin aus dem Programm, weil sie privat was gegen Abtreibung hat. Und TV-Fussballmann Sascha Ruefer, der ein Spiel der Nati kommentiert, obwohl er tags zuvor Vater geworden war, wird via Leitartikel in Zeitungen zurück gepfiffen: «Frischgebackene Väter: Bleibt daheim!»
Wie war das eigentlich gemeint mit der Freiheit im Privaten? Sie gehörte ja von Beginn weg zum Kern der Moderne, die von hygienischen Trennungen lebt: «Draussen» gelten Gesetz und soziale Übereinkünfte, «drinnen» im Privaten sind wir frei zu denken, nach eigenem Gusto zu leben. Das Meinen wurde befreit von der Überwachung durch Politik, Kirche. Gleichzeitig privatisiert, quasi ins Haus gedrängt.
Denn es sollte daran gehindert werden, sich öffentlich als Wahrheit aufzuplustern. Davon hatte man die Nase voll nach den Jahren der Glaubenskriege, als die Völker sich niedermetzelten – im Namen des einzig richtigen Glaubens. Also domestizierte man das Meinen – um so das gemeinsame Leben zu schützen vor seinem tödlichen Übereifer.
Und heute? Plustern sich Gruppenmeinungen wieder auf wie allgemeine Glaubenssätze. So dass man sich bald vorkommt wie in Glaubenskriegen. Die bleiben zwar unblutig, ähneln aber immer mehr einem Bürgerkrieg der Meinungen, worin jede Partei ihre eigene Version der Wahrheit durchpaukt und die Sicht auf eine gemeinsame Realität immer mehr verschwimmt. Und am Ende niemand mehr unterscheiden kann zwischen Wahrheit und Lüge.
Darum: Meinungsfreiheit ist natürlich gegen ihre autokratischen Feinde zu verteidigen. Sie will aber auch verschont werden vor ihren rabiaten Liebhabern. Darüber machten sich die Geburtshelfer einer aufgeklärten Moderne allerlei Gedanken. Zunächst Immanuel Kant. Hebt das «Selbstdenken» ins Programm der Aufklärung: «Sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen», damit steht und fällt unsere Mündigkeit. Doch was wir uns da privat zusammenreimen, das ist alles andere als die grosse Offenbarung. Wie sollte ich solo zum souveränen Durchblick kommen? Ich in meinem beschränkten Gesichtskreis, eingefärbt durch Herkunft und Milieu? Das reicht nur zur «Meinung», wörtlich «meiner» Ansicht.
Erst der Streit der Meinungen verspricht so etwas wie Wahrheit. Also eine diskutante Öffentlichkeit, mit Kant zu reden, das «Reiben» der Meinungen «aneinander». Die Meinungen sollen sich so lange aneinander reiben, bis sie aufhören, bloss Meinungen, also mein, dein, sein zu sein – und stattdessen «öffentliche Meinung» werden, also gemeinsame Überzeugung, wahrheitsfähige Übereinkunft.
Hegel sieht diesen öffentlichen Abrieb als Fressen und Gefressenwerden. «Es ist ein anderes, was sich jemand zuhause bei seiner Frau und seinen Freunden einbildet, und wieder ein anderes, was in einer grossen Versammlung geschieht, wo eine Gescheitheit die andere auffrisst.»
Öffentlichkeit wäre dann nicht bloss die grosse Bühne, auf der alle privaten Gescheitheiten auftreten und herumstolzieren; sie müsste das grosse Fressen organisieren, zu dem möglichst alle eingebildeten Gescheitheiten sich einstellen – mit dem Risiko, von anderen, gescheiteren verschlungen zu werden. Dabei spekuliert Hegel auf Verdauung: dass das Ferment des besseren Arguments alles ausscheide, was an Meinungen nur privat ist, also eigensinnig und beschränkt, – und so etwas wie eine Schwarmmeinung zurückbleibe, das momentan einleuchtende Vernünftige.
Kant, Hegel. Ist lange her. Ebenso die Vista einer Öffentlichkeit als Purgatorium für private Borniertheit. Erst recht die Bereitschaft, aufgefressen zu werden zugunsten eines höheren Ganzen. Die hing ja vom Vertrauen ab, alle würden dabei profitieren. Heute wächst eher das Misstrauen, im grossen Ganzen unter die Räder zu geraten. Weshalb Meinungen umso rabiater auftreten, je «authentischer» sie mein, dein, sein sind.
Was vermittelt dann zwischen rivalisierenden Gescheitheiten – wenn nicht altmodisch das bessere Argument? Da hier kein Platz mehr ist, bleibt die Frage: Wen wollen wir nun antiquierter nennen – Kant / Hegel oder uns?
Ludwig Hasler ist Philosoph, Publizist und Buchautor.