Die Übergabe ist für den sechsjährigen Buben eine Belastung. Die Mutter lässt ihn auf dem Spielplatz alleine warten, bis der Vater übernimmt. Auch der Vater geht der Mutter konsequent aus dem Weg. Das Beispiel, das die Berner Oberrichterin Anastasia Falkner am Freitag während einer Pressekonferenz über das Pilotprojekt «Zentrum für Trennung in Familien» erläuterte, stammt aus ihrem Berufsalltag. Bei der Kindsbefragung äusserte der Bub seinen grössten Wunsch: «Mama und Papa sollen sich wieder Hallo sagen.»
In der Schweiz sind jedes Jahr neu fast 30’000 Kinder von der Trennung ihrer Eltern betroffen. In Hunderten Fällen müssen die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) und die Gerichte intervenieren, weil die Eltern hochzerstritten sind - zum Beispiel, weil sich Vater und Mutter partout nicht über die Obhut oder das Besuchsrecht einigen, Vermittlungsvorschläge der Beistände torpedieren, Anwälte einschalten und alle Hebel in Gang setzen, um die Behörden auf ihre Seite zu ziehen.
«Viele der Betroffenen sind im freien Fall und haben die Kontrolle über sich verloren. Ein Mittel, um den anderen Elternteil zu verletzen, ist das Kind», sagt Kescha-Präsident Guido Fluri. Die Kescha ist eine Anlaufstelle für Menschen, die mit Behördenentscheiden unzufrieden sind. Fluri, schweizweit bekannt für seinen Einsatz zugunsten von Verdingkindern, sagt: «Die grösste Gruppe, die Unterstützung sucht, sind dauerhaft zerstrittene Mütter und Väter, die dafür aber die Kesb und die Gerichte verantwortlich machen.» Bei diesem Tunnelblick bleibt das Kindeswohl auf der Strecke. Dabei wünschen sich viele Kinder sehnlichst, dass ihre Eltern aufhören, sich zu bekriegen.
Laut Fluri gelingt es der Kescha, in zwei von drei Fällen eine Lösung herbeizuführen. Jetzt hofft er, dass seine Anlaufstelle bald ersetzt wird durch eine institutionelle Lösung. Zu diesem Zweck läuft derzeit ein auf zwei Jahre befristetes Pilotprojekt in der Stadt Bern. Geht es nach Fluri, wird es später schweizweit ausgerollt und macht die Kescha überflüssig - falls das Projekt erfolgreich verläuft.
Um was geht es? Eine breite Trägerschaft um die Guido-Fluri-Stiftung und zahlreiche Kindesschutzexpertinnen hat den Verein Zentrum für Familien in Trennung (Zfit) gegründet. Der Verein hat vom Bundesamt für Justiz eine Sondergenehmigung erhalten, geniesst den Support des Kantons Bern und ist schon operativ tätig. Das Ziel lautet, die Konflikte von hochzerstrittenen Eltern zu entschärften, bevor die Kesb eine Verfügung erlassen oder ein Gericht einen Entscheid fällen muss.
Eltern sollen sich zusammenraufen
Mit anderen Worten: Auch wenn sie als Paar nicht mehr funktionieren, sollen sich Väter und Mütter zusammenraufen und eine tragfähige Lösung zugunsten ihrer Kinder finden. Zu diesem Zweck können die Behörden eine obligatorische Beratung anordnen, zu der Eltern zu sechs gemeinsamen Sitzungen innert vier Monaten aufkreuzen müssen. Die Kinder werden altersgerecht in die Beratung einbezogen. Das Beratungsteam besteht aus Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern des Amts für Erwachsenen- und Kindesschutz der Stadt Bern sowie psychologischen Fachpersonen der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Bern. Verfehlt die angeordnete Beratung ihr Ziel, liegt der Ball wieder bei der Kesb oder dem Gericht.
Die Berner Justizdirektorin Evi Allemann (SP) zeigte sich zuversichtlich, dass das neue Zentrum einen Beitrag leistet, um die Situation von Familien in Trennung zu verbessern. Die Universität Freiburg wird das Verfahren wissenschaftlich begleiten und auswerten. Gemäss Guido Fluri haben die Kantone Zug und St. Gallen bereits Interesse signalisiert an dem Berner Modell. Übrigens: Für die öffentliche Hand fallen keine zusätzlichen Kosten an. Sie werden von der Guido-Fluri-Stiftung getragen.
Bloss: Weshalb braucht es eine neue Institution, wenn sich bereits Kesb und Gerichte mit zutiefst verkrachten Eltern abmühen? «Richter sind nicht Psychologen. Eine Familie in einem halben Tag wieder auf Kurs zu bringen, ist schwierig», sagt Richterin Falkner. Die Kesb verfüge zwar über die nötigen Fachpersonen, sei aber keine Beratungsstelle und habe dafür auch nicht genügend Zeit und Personal, sagt Charlotte Christener, Präsidentin der Stadtberner Kesb.
Eine einvernehmliche Lösung zwischen den Eltern ist zentral für das Kindeswohl. Die Berner Kinderpsychiaterin Katrin Klein sagte: «Lang anhaltender Streit in Familien gilt als Risikofaktor für Befindlichkeit, Gesundheit und kindliche Entwicklung.»