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Gastkommentar

Lehrerinnen und Lehrer brauchen Freiheiten, nicht mehr Vorgaben

In vielen Kantonen beginnt am Montag das neue Schuljahr. Was es braucht, damit es ein erfolgreiches wird.
Unterrichten ist ein anspruchsvoller Auftrag.
Bild: Laurent Gillieron / Keystone

Tausende von Schülerinnen und Schülern starten dieser Tage zusammen mit ihren Lehrpersonen in ein neues Schuljahr. Anfangen, und zwar immer wieder, jeden Tag, das gehört zum menschlichen Leben und damit auch zur Schule. Leben ist anfangen. Mit Kindern und Jugendlichen sowieso. Am schönsten ist es wohl beim Start. Jedem Anfang wohnt ja ein Zauber inne; so hat es Hermann Hesse empfunden. Etwas Freudig-Beschwingtes liegt im Aufbrechen, etwas Erwartungsvolles, manchmal vermischt mit Unsicherheit und einer Prise Skepsis.

Carl Bossard ist ehemaliger Direktor der Kantonsschule Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug
Bild: zvg

Lernen heisst immer auch aufbrechen und sich einlassen auf Neues. Es gleicht einer Entdeckungsreise: den geschützten Hafen verlassen und hinaussegeln in ein neues Schuljahr. Lernen bedeutet sich aufmachen, heisst die feste Mole verlassen und sich in Unbekanntes wagen.

«Hinaus, hinaus ins Offene!», schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche, als er am Strand von Genua in die unendliche Weite des Mittelmeeres hinausschaute und den Horizont absuchte. Nietzsches Ausruf lässt sich auf die Schule übertragen: Bildung als weiter Horizont. Und er symbolisiert die Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern: konfrontiert sein mit Unbekanntem und aufbrechen ins Offene – und so die jungen Menschen zu neuen Horizonten führen.

Das ist nicht immer bequem und oft mit Risiken verbunden. Das ist anstrengend und anspruchsvoll zugleich. Unterrichten ist Segeln in offener See, nicht Bahnfahren auf vorgegebenen Geleisen. Die Hohe See kennt das Unwägbare, das Unberechenbare und Nichtkalkulierbare. Das gilt auch für den Unterricht: Wie bei der Seefahrt lässt sich nicht alles planen, und doch muss man auf die Bildungsreise mit Kindern und Jugendlichen gründlich vorbereitet sein und das gemeinsame Ziel genau kennen.

470 Seiten Lehrplan

Schulleitung und Lehrpersonen sind nicht verantwortlich für Wind und Wellen, für Sturm und Strömung, aber sie sind verantwortlich für das Boot, das Team, die Passagiere. Sie sind zuständig für den richtigen Kurs, verantwortlich für die Lernatmosphäre und die Klassenkultur an Bord. Wer Verantwortung trägt, braucht Freiheit. Das gilt für die Seefahrer, das gilt für die Schule. Doch Freiheit, dieses kleine Wort, hat es heute schwer. Gerade auch in den Schulen. Da wird immer enger normiert und immer mehr vorgeschrieben.

20 Seiten! – So gross war der Lehrplan, der Peter Bichsels Wirken als Primarlehrer steuerte. Das liess Raum für kreative Unterrichtsfreiheit. Heute umfasst der Lehrplan 21 ganze 470 Seiten. Genau zwei Formulare musste Bichsel pro Schuljahr ausfüllen: eines mit der Liste aller Schüler sowie eine A4-Seite mit dem Bericht über seine Jahresarbeit. Dazu der Schriftsteller Bichsel wörtlich: «Heute haben die Lehrer jeden Tag mindestens eine Stunde Büroarbeit. Daran wäre ich wohl gescheitert, nicht an den Schülern, aber an der Bürokratie.»

Nur Freiheit bringt Raum fürs Unvorhersehbare

Darin liegt das Paradoxe: Die Regeln und Reglemente, die vielen inhaltlichen Vorgaben und administrativen Vorschriften, sie stehen im Widerspruch zur notwendigen Freiheit. Zielgerichtetes Navigieren und situativ richtiges Reagieren mit dem Klassenboot brauchen Freiheit. Doch wem vorgeschrieben wird, wie und wann er die Segel zu setzen hat, kann nicht mehr hart am Wind fahren, der wird vom Kapitän mit hoher Eigenverantwortung zum Befehlsempfänger degradiert.

Anders gesagt: Der Hafenmeister hat nicht über die Entscheidungshoheit des Kapitäns zu befinden, die Seepolizei nicht über jedes einzelne Bootsmanöver einen Rapport einzufordern. Nur Freiheit bringt Raum fürs Unvorhersehbare, fürs kreative Handeln, fürs spontane Eingehen auf Kinder und ihr bildungswirksames Lernen. In der verantworteten Freiheit liegt darum der Kern des ganzen pädagogischen Wirkens.

Das müssten die bildungspolitisch Verantwortlichen wieder ermöglichen. Dazu aber müssten sie die inhaltliche Fülle des Lehrplans 21 mit den zwei frühen Fremdsprachen in der Primarschule reduzieren. Zu bedenken ist die Überforderung mancher Lehrpersonen durch das aktuelle Integrationsmodell, zurückzubinden der Einfluss der Test- und Messindustrie. Das bringt freien Raum. Unterrichten ist Segeln – ein anspruchsvoller Auftrag! Für die Fahrt hinaus ins Offene brauchen Lehrerinnen und Lehrer die notwendige Freiheit. In diesem Sinn: Schulen ahoi!

Carl Bossard ist ehemaliger Direktor der Kantonsschule Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug