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Bergsturz

In 105 Tagen ein Hotel errichtet: Blatten wendet sich der Zukunft zu

Ein halbes Jahr ist vergangen, seit ein Bergsturz Blatten unter Schutt- und Gletschermassen begrub. Aufgeben war für die beiden Hoteliers Lukas Kalbermatten und Esther Bellwald keine Option. Sie bauten im Lötschental ein neues Hotel in Rekordtempo. Ein Besuch.
Direkt an der Skipiste und neben der Bergstation auf der Lauchernalp steht das neue Hodel Momentum.
Bild: Jean-Christophe Bott / Keystone

Rote Papierengel und Tannenäste zieren den Aufenthaltsbereich des frisch eröffneten Hotels Momentum. Im Eingang steht ein geschmückter Christbaum. Doch Weihnachten ist gerade nicht das grosse Thema.

Zu feiern gibt es an diesem Freitag auf der Lauchernalp wichtigeres: Den Mut zweier lokaler Hoteliers und eines Baunternehmers aus dem Aargau, die zusammen in 105 Tagen ein neues Hotel errichtet haben.

Ein halbes Jahr nachdem das Dorf Blatten unter Schutt- und Gletschermassen begraben wurde, wendet sich das Lötschental seiner Zukunft zu. Das Hotel ist ein wichtiges erstes Projekt, um den Tourismus zu erhalten.

Sie hätten das «Momentum» ergriffen, sagt Hotelier Lukas Kalbermatten, um den Namen zu erklären. Der 55-Jährige hat wenige Tage nach dem fatalen Bergsturz das Projekt angerissen. Von den drei zerstörten Hotels in Blatten gehörte eines seiner Familie. Ein anderes gehörte Esther Bellwald. Anstatt den Kopf in den Sand zu stecken, modellierten sie die Zukunft und verfassten ein neues Beherbergungskonzept, mit dem sie Bergbahnen, Politik und Spender im Nu überzeugten.

Die beiden Hotelmanager Esther Bellwald und Lukas Kalbermatten haben das Momentum ergriffen und sich für die Zukunft entschieden.
Bild: JEAN-CHRISTOPHE BOTT

Ihnen spielte in die Hände, dass die Hotels in Blatten seit 2011 unter dem Namen «die Lötschentaler» kooperieren und damit gute Erfahrungen machten. Laut Kalbermatten konnten sie in fünfzehn Jahren die Zahl der Logiernächte von 7800 auf 14100 erhöhen und den Umsatz mehr als verdoppeln.

Zahl der Übernachtungen stürzte im Sommer ab

Der Bergsturz begrub nicht nur das Hab und Gut der Menschen, sondern auch einen Teil der Zukunft. Wichtige Infrastruktur ist zerstört, Blatten beherbergte bis zur Katastrophe die meisten Gäste. Diesen Sommer schrumpften die Hotelübernachtungen um 82 Prozent. Gleichzeitig sind die Gruppenunterkünfte sowie einer von zwei Campingplätzen vernichtet. In vielen Ferienwohnungen im Tal sind heute Bewohnerinnen und Bewohner von Blatten untergebracht. Für Kalbermatten war klar: «Wollen wir den Tourismus und die Wertschöpfung im Tal erhalten, müssen wir schnell handeln.»

Fünf Monate nach dem Bergsturz stehen lediglich vereinzelte Häuser, letzte Überbleibsel von Blatten. Bis auf das entlegene Hotel Fafleralp sind alle zerstört.
Bild: Keystone

Das Konzept eines provisorischen Hotels überzeugte auch Mathias Fleischmann. Der CEO der Lauchernalp Bergbahnen lieferte den perfekten Ort dafür: Neben der Bergstation direkt an der Skipiste. Die Bergbahnen stellen den Hoteliers den Platz für die nächsten fünf Jahre zur Verfügung. Ob das Hotel dann weiterbetrieben oder abgebaut und an einem neuen Ort aufgestellt werden soll, ist offen.

Dass sie das Projekt stemmen können, wussten sie schnell. «Die Finanzierung hatten wir in zwei Stunden zusammen», sagt Kalbermatten. Geholfen hat dabei nicht nur das Geld der Versicherungen. Auch der Kanton sprach eine Million Franken als Wirtschaftsförderung und die Berghilfe spendete 500'000 Franken.

Wind, Erdbeben, Schnee: Neubau mit grossen Herausforderungen

Doch wer schafft es, ein Hotel in nur 105 Tagen auf 2000 Meter zu errichten? Die Unwägbarkeiten sind gross. Neben der Schneelast ist das Hotel auch starken Winden ausgesetzt. Es steht zudem neben der Lawinenzone und im Erdbebengebiet.

Verschiedene Unternehmer wurden angegangen. Schäfer Holzbau aus dem Aargau sagte zu und erklärte Anfang August, das Hotel bis an Weihnachten aufzustellen. Esther Bellwald war zunächst nicht überzeugt. Sie fürchtete, das Projekt werde zu überhastet umgesetzt. Doch sie schüttelte Zweifel ab: «Wenn das Bauunternehmen das ermöglicht, müssen wir das Momentum packen.»

Zügig ging es darum weiter. Der Kanton erteilte die Bewilligung im Eilverfahren: 36 Tage nach der Eingabe konnte der Bau beginnen. Doch das Projekt blieb eine Wette gegen die Zeit – und gegen den Schnee.

Die Firma Schäfer konnte zwar von gewissen Erfahrungen profitieren: Sie hat in Zürich in kurzer Zeit temporäre Turnhallen erstellt. Doch das Hotel war auch für die Holzbauer eine Herausforderung. Ganze Wandteile, Decken und Badezimmer wurden im aargauischen Dottikon erstellt. WC, Duschwand und Brünneli waren fix eingebaut, bevor sie im Wallis eintrafen.

Die Hotelzimmer sind schlicht und gemütlich. Das Holz und die Farben strahlen viel Wärme aus.
Bild: Jean-Christophe Bott / Keystone

Grosse Lastwagenanhänger schleppten die Bauteile über die Strasse auf die Lauchernalp. Bis es Mitte Oktober ein erstes Mal schneite. Doch der Schnee verschwand wieder. Dank der Vorarbeit konnte das Hotel in 15 Arbeitstagen errichtet werden. Allerdings mussten die Zimmermänner vor der Arbeit mehrmals Schnee schaufeln. Bis zu 50 Zentimeter habe es über Nacht hingelegt, sagt Projektleiter Gregor Notter.

Seit Mitte November ist die Strasse eine Schlittelbahn. Die Gerüste und der Kran müssen auf der Alp überwintern.

Trauer und Verlustgefühle lösen die Freude wieder ab

Wie knapp die Eröffnung auf Kante genäht ist, zeigt der erste Besuch im Hotel. Die Mitarbeiter haben das Weihnachtsdekor maximal zwei Stunden vor Eintreffen der Medienschaffenden platziert. Gastgeberin Esther Bellwald sieht das vollständig eingerichtete Zimmer auch zum ersten Mal. Sie ist zufrieden, wie sie sagt. Auch wenn sie noch nicht das Gefühl habe, dass das Hotel auch ihr gehöre. Manchmal überdeckten Trauer und Verlust auch die Freude am Neuen. «Die Gefühle sind noch nicht ausbalanciert.»

Wenn sie über das Projekt spricht, dann verschwindet das Negative. Die Zusammenarbeit, das Engagement der Bauarbeiter, der einheimischen Bevölkerung sei einmalig. «Manchmal brannten um neun Uhr abends die Lichter im Hotel», sagt Bellwald. Dafür habe ihr Mann die Handwerker bekocht, als die Restaurants in der Zwischensaison geschlossen waren.

Jetzt endet die Bauphase mit dem letzten Feinschliff. Die Tische und Stühle im Gemeinschaftsraum sind am Freitagmorgen eingetroffen. Mit der ersten Seilbahn wurden sie von Wiler auf die Lauchernalp transportiert und von Freiwilligen über den Schnee geschleppt, ausgepackt und installiert. Im Skiraum bauen die Handwerker noch Ablageflächen. Im ersten Stock saugt eine Mitarbeiterin den Boden. Hotelmanagerin Bellwald lässt sich vom Betrieb nicht irritieren. «Ich habe erwartet, dass wir bis zum letzten Tag auf der Baustelle sind.»

Die Zimmer des Hotel Momentum auf der Lauchernalp verfügen alle über einen Balkon mit bester Aussicht auf das Bietschhorn.
Bild: Jean-Christophe Bott / Keystone

Den Beweis geliefert: Blatten wird auferstehen

Längst nicht alle Details funktionieren: Die Bezahlterminals, die sie vor fünf Wochen bestellt habe, seien noch nicht eingetroffen. Wichtig ist ihr sowieso, dass sich die Gäste wohlfühlen. Die spärlich eingerichteten Zimmer sind gemütlich und praktisch. Jedes Zimmer verfügt über einen eigenen Balkon – mit Blick auf das Bietschhorn. Nun kommen erste Bekannte zu Besuch. Ab dem 25. Dezember gilt es ernst: Über Weihnachten und Neujahr sind die 19 Zimmer schon ausgebucht.

Dem Tag der Eröffnung kann kaum zu wenig Bedeutung beigemessen werden. Denn das vollendete Projekt ist nicht bloss Ausdruck eines starken Willens, hoher Disziplin und Schaffenskraft. Es ist ein Monument für die Bevölkerung. «Damit die Menschen hier die Hoffnung nicht verlieren», sagt Lilian Ritler von den Bergbahnen. Ihr hat der Bergsturz alles genommen. Die Trauer habe sich nicht verwunden. Aber was hier geschaffen wurde, widerlege alle Pessimisten. «Wir können das Dorf wieder aufbauen. In fünf Jahren gibt es Blatten wieder.»

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