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Medien

«Ich hätte gerne herausgefunden, was ein Online-Portal genau ist»

Controlling-Wahn, Sparübungen, Dot-com-Bingo: Hansi Voigt, Ex-Chef von «20 Minuten»-Online, rechnet mit Tamedia ab. Erstmals redet er offen über die Gründe seines Abgangs.
Hansi Voigt, Ex-Chef von «20 Minuten»-Online

Herr Voigt, Tamedia wollte Sie nicht als Chef der zusammengelegten Print- und Online-Redaktion von «20 Minuten». Jetzt sind Sie Chefredaktor des Jahres geworden. Eine Genugtuung?

Hansi Voigt: Der Titel ist natürlich schmeichelhaft, aber ich wäre lieber Chef der Redaktion des Jahres. Wir haben bei «20 Minuten»-Online Journalismus als Mannschaftssport betrieben.

Was zeichnet Sie als Chef aus?

Wahrscheinlich die Bereitschaft zur Veränderung. Die Medienbranche ist im Umbruch, und Innovation ist für mich keine Herausforderung, sondern eine Selbstverständlichkeit. Wichtig war mir auch das Vertrauen ins Team. Als Chef eines Online-Portals kannst du nicht 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche alles kontrollieren. Online-Journalisten müssen sehr eigenverantwortlich arbeiten.

Sind Online-Journalisten die besseren Journalisten?

Nicht pauschal. Aber ihr Verantwortungsbewusstsein ist grösser. Wenn du abends ab 21 Uhr alleine oder zu zweit das ganze Portal unter dir hast, spürst du deine Verantwortung. Du musst dich mit entscheidenden Fragen auseinandergesetzt haben, bevor du auf ein aktuelles Ereignis reagieren musst: Was darf ich schreiben, was nicht? Welche Bilder darf ich zeigen? Sagen wir es mal so: Ein durchschnittlicher «20 Minuten»-Online-Journalist verfügt über mehr Medienkompetenz als 90 Prozent der Journalisten in meiner früheren Print-Zeit.

Jetzt sind Sie als Chefredaktor weg vom Fenster. Wohin hätten Sie «20 Minuten» gerne weiterentwickelt?

Ich hätte gerne herausgefunden, was ein Online-Portal wie «20 Minuten» eigentlich genau ist. Online ist mehr als Print, aber was? Ein Sender? Wenn ja: SRF1? Oder SRF2? Joiz? RTL? Eine Sendeanstalt mit Text, Bewegtbild, Interaktion, Radio und Tonbildschau? Als Chef eines Onlineportals machst du jedenfalls ein Programm, keine Ausgabe. Hier machen die Verlage auch den grössten Fehler: Online wird wie der nicht gedruckte Teil einer Zeitung behandelt. Das ist der falsche Ansatz. Es heisst nicht umsonst Multimedia.

Warum machen Verlage diesen Fehler?

Die Verlage stecken in einem Dilemma. Sie wollen ein System bewahren, das immer noch unglaubliche Renditen abwirft, und müssen gleichzeitig Neues wagen, wobei das Neue zum Teil ihr bisheriges Geschäft zerstört.

Schützen die Verlage ihre Pfründe, statt Innovationen zuzulassen?

Die Herausforderung traditioneller Verlagshäuser ist ungeheuer schwierig. Dass die Verlage dieser Herausforderung mit einer gewissen Angst begegnen, ist nachvollziehbar, letztlich aber falsch.

Spielte diese Angst eine Rolle beim Entscheid, Sie nicht zum Chef der konvergenten Redaktion zu machen?

Ich habe klargemacht, dass ich für keine Co-Chefredaktion zur Verfügung stehe. Vielleicht wurde das als mangelnde Kompromissbereitschaft empfunden. Dass man nicht denjenigen befördert, der einem die Pistole auf die Brust setzt, kann ich verstehen. Ich bin aber überzeugt, dass mein Entscheid richtig war.

Online-Journalisten klagen, dass sie in konvergenten Redaktionen zu Dienstleistern der Print-Kollegen zurückgestuft werden.

Ich bin nicht grundsätzlich gegen Konvergenz, solange nicht Printdenken über den Online-Journalismus gestülpt wird. Konvergenz heisst heute aber genau das: Die Vorteile des neuen Mediums werden verspielt. Bei «Blick Online» oder auch bei der NZZ sieht man, wie statisch Webportale aussehen, wenn sie vom Print her gedacht werden. So ist Konvergenz keine Weiterentwicklung, sondern ein Rückfall in die Online-Steinzeit. Ich glaube, das müsste man umgekehrt andenken.

Umgekehrt heisst?

Mein Konzept sah vor, sämtliche inhaltlichen Entscheidungen bei «20 Minuten» in der Online-Redaktion anzusiedeln. Denn nur dort sind alle Entscheidungen möglich: Was machen wir sofort, was heute, was morgen? Was gross, was klein? Was wird gefilmt, was geschrieben, was gedruckt? Am Abend hätten Print-Produzenten aus dem Online-Best-of die Printausgabe verfasst. Jede Berechnung zeigt, dass dies wesentlich effizienter gewesen wäre. Gewisse Entscheide in Verlagen haben wohl viel mit der Angst vor Kontrollverlust zu tun.

Sie waren zu unkontrollierbar für Tamedia?

Das mag sein. Aber auch Verlagsmanager sind in der heutigen Umbruchzeit dazu verdammt, Kontrollverluste hinzunehmen, wenn wir Journalisten Innovation, Kreativität und Erneuerung anstreben sollen. Sie müssen Bewegungsfreiheit zulassen, damit Neues entstehen kann. Leider widerspricht dies diametral dem derzeitigen Organisationsverständnis eines erfolgreich geführten Verlagshauses. Das definiert sich heute vor allem über Kosteneffizienz.

Was hat das zur Folge?

In den letzten Jahren hiess Geld verdienen Kosten sparen. Etwas Neues wagen gehörte nicht zu den Aufgaben. Angesichts der digitalen Revolution müssen sich die Verlagshäuser aber neu erfinden, sonst sind sie weg vom Fenster. In dieser Situation fehlt es an Innovationskraft und Offenheit für Neues.

Stattdessen wird weiter gespart.

Das hat ja immer gut funktioniert und tut es immer noch. Es wird inzwischen sogar von «20 Minuten» erwartet, dass 15 Prozent der Kosten eingespart werden. Die Verwendung der Formulierung «Sparen müssen» hat im Zusammenhang mit einem hoch rentablen Produkt wie «20 Minuten» meines Erachtens etwas Obszönes. «Sparen können» wäre schon richtiger. Grundsätzlich habe ich nichts gegen mehr Effizienz. Ich habe auch nichts dagegen, wenn der Konzern sagt, man solle mehr Geld reinholen. Mühe habe ich mit einem Sparkurs, der die strategische Entwicklung neuer Geschäftsbereiche verbaut.

Trotzdem hätten Sie die Sparübung als Chefredaktor mitgemacht?

Es gibt in einem Grosskonzern auch zahlreiche Wege, die Effizienz zu steigern, ohne bei der Redaktion zu sparen. Ich musste als Kostenstellenleiter beispielsweise für jeden Laptop, den uns der Konzern zur Verfügung stellte, pro Monat 540 Franken Umlagekosten verbuchen. Es wäre günstiger gekommen, die Geräte zurückzugeben und im Mediamarkt neue Laptops zu kaufen. Das ist die Tragik des Grosskonzerns.

Man hat mit dem Controlling in den Verlagen ein Monster geschaffen, das den Journalismus frisst?

Im April 2012 wurde das beste Ergebnis seit Bestehen der Tamdia gefeiert. Die Mitarbeiter erhielten eine Lohnerhöhung von 0,4 Prozent, und einen Monat später wurde bekannt gegeben, dass die Redaktionskosten um 15 Prozent gesenkt werden müssen. Es scheint, als solle die Rendite in der rasant umbrechenden Zeit die einzige Konstante sein.

Wir sprechen von 20 Prozent Rendite.

Konzernweit wird die Umsatzrendite ausgewiesen: 19 Prozent. Bei «20 Minuten» liegt sie höher. Damit könnte man dem Journalismus ganz gut aus der angeblichen Krise helfen. Leider wird aber in den Grossverlagen das erwirtschaftete Geld nicht in bessere Inhalte oder neue Medienmodelle gesteckt, sondern eher für eine Art Dot-com-Bingo ausgegeben. Da werden Firmen zusammengekauft, die nichts mit dem enormen Wert zu tun haben, den Redaktionen für Verleger schaffen: Aufmerksamkeit.

Wie sehen Sie die Zukunft der Verlage, wenn sie so weitermachen wie bisher?

Dann sehe ich grosse Parallelen zur Musikindustrie. Ich hatte früher ein unabhängiges Plattenlabel, quasi eine Selbsthilfegruppe gegen die grossen Majors, die alles diktierten. Den grossen Labels ging es grossartig, junge Bands wurden mit Knebelverträgen gefesselt. Heute geht es der Musikindustrie schlecht. Aber gehts auch der Musik schlecht? Nein! Bands verdienen besser als früher, sie geben zur Freude der Fans viel häufiger Konzerte und verdienen ihr Geld vor allem mit Tickets und Fanartikeln. Die Musiklabels sind heute entweder den Künstlern wirklich zu Diensten oder überflüssig. Verlage sollten das Musikbusiness gründlich studieren. Sonst braucht es sie irgendwann nicht mehr.

Was würde das Ende der Verlagshäuser für den Journalismus bedeuten?

Die Frage ist letztlich, wie viel Verlag der Journalismus der Zukunft noch brauchen wird. Wer effizient arbeitet, technische Innovation nutzt und nicht bekämpft, Doppelspurigkeiten vermeidet und schlaue Kooperationen sucht, hat als Verlag eine Zukunft. Womöglich werden diese Verlage aber erst jetzt oder in den nächsten Jahren in der Garage gegründet. Journalismus wird es immer brauchen und geben.

Das vollständige Interview mit Hansi Voigt: www.sonntagonline.ch